Ein uneingelöster Traum

Vasco Esteves über Portugals 68er, die Nelkenrevolutionäre und einen abgebrochenen Ausflug in die Freiheit

Wann haben Sie begonnen, sich politisch zu engagieren?

Von 1965 bis 1968 habe ich an der Ingenieurschule IST in Lissabon Elektrotechnik studiert und wurde in den Vorstand der Associação de Estudantes– das ist so etwas wie ein Asta – gewählt. Wir haben Proteste und Besetzungen organisiert. Es ging um staatliche Zuschüsse für unsere selbstverwaltete Kantine. Aber natürlich war es auch politisch gemeint, wir wollten die Konfrontation mit dem faschistischen Staat.

Salazars Nachfolger hatte Reformen angekündigt.

Wir wollten die neue Regierung testen. Unser Protest war die erste Aktion nach dem Antritt von Caetano im Herbst 1968, und im Dezember haben sie unsere Technische Hochschule geschlossen und die Organisatoren der Proteste wurden suspendiert und angeklagt.

Zeitzeuge

Vasco Esteves, geboren 1947 in Lissabon, emigrierte 1969 in die Bundesrepublik. Der frühere Informatiker arbeitet heute in Berlin als Schauspieler. Esteves wirkt bei der humanistischen Presseagentur »Pressenza« mit. www.pressenza.com

Welche Folgen drohten Ihnen?

Man hätte mich aus der Uni geschmissen. Und hätte ich nicht mehr studieren dürfen, wäre ich zum Militär eingezogen worden. Ich war gegen Portugals Kolonialkriege und wollte nicht für die falsche Sache auch noch sterben.

Zu welcher Strömung der Opposition gehörten Sie?

Ich war unabhängig. Bis heute habe ich nie einer Parteiorganisation angehört. Wie die Mehrheit an meiner Schule und an vielen anderen Universitäten stand ich noch links von der KP. Manche waren Maoisten, einige KP-Leute, aber wir haben da keine großen Unterschiede gemacht: Wir waren alle Antifaschisten.

Wie hingen die Proteste mit dem internationalen Szenario zusammen?

Wir waren besonders durch die 68er in Frankreich inspiriert. Wir fühlten uns der Bewegung zugehörig, die gegen Autoritarismus und Vietnamkrieg aufstand, und durch sie bestätigt. Für uns war unser Kampf gegen Faschismus und Kolonialismus der gleiche Kampf.

Wie sind Sie damals aus Portugal rausgekommen?

Ich erhielt ein Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung in Deutschland. Die SPD von Willy Brandt wollte den Sozialisten in Portugal helfen. Die hatten noch keine Partei, aber einen Vorläufer, die Acção Socialista Portuguesa (ASP) von Mário Soares. Dieser Soares-Gruppe wurden fünf Stipendien für von Verfolgung bedrohten Studenten angeboten. Die Sozialisten waren ein kleiner Intellektuellen-Klub aus der Oberschicht – und haben die fünf jungen Leute nicht aus den eigenen Reihen zusammengekriegt. Deshalb haben sie andere politische Gruppen gefragt. In Stuttgart habe ich dann ein Mathematik-Studium angefangen und in Frankfurt am Main abgeschlossen.

Kundgebung im Alentejo: Die Nelke symbolisiert die Hoffnung auf ein besseres Leben. (Foto: Klaus Steiniger)

Wie sehr hat Sie der Sturz des Regimes am 25. April 1974 überrascht?

Völlig. Praktisch war das für die ganze Zivilgesellschaft eine Überraschung. Zunächst war es nur eine militärische Angelegenheit: Wir müssen unsere Regierung stürzen, weil unsere Kriege in Afrika nicht zu gewinnen sind. Der 25. April war nur ein Staatsstreich der MFA (Bewegung der Streitkräfte), keine Revolution. Diese war nicht geplant.

Warum hat sie trotzdem stattgefunden?

Die Revolution entstand spontan und ging von der Bevölkerung aus. Es entstand eine echte Basisbewegung, der Prozess war nicht von oben nach unten organisiert. Vor allem die unteren Schichten waren daran beteiligt.

Gleichzeitig ging es mit der Wirtschaft abwärts.

Einige Großgrundbesitzer und Unternehmer hauten nach dem 25. April mit dem Geld ab, ließen ihre Besitztümer und Fabriken zurück. Und dann hieß es: Portugal am Abgrund! Doch nicht die Revolution hat die Not erzeugt, sondern das Handeln der Kapitaleigner und der alten Faschisten.

Was konnten die Massen in dieser Situation bewirken?

Die Arbeiter und Arbeiterinnen haben es nicht akzeptiert, arbeitslos zu werden. Sie begannen damit, Fabriken oder Ländereien zu besetzen. Vor allem im Süden, im Alentejo, wo Großgrundbesitzer herrschten. Im Norden überwogen Kleinbauern mit eigenem Land, die waren nicht so in der Krise.

Es ging dabei aber nicht nur um die Produktion?

Richtig. Auch in anderen Bereichen entstand eine völlig freie Selbstverwaltung: in der Kultur, in den Medien, im Bildungswesen. Weil der hohe Analphabetismus besiegt werden sollte, wurden mehr Lehrer gebraucht, manche hatten keine pädagogische Ausbildung oder hatten ihr Studium noch nicht beendet. Not machte erfinderisch.

»Solidarisch mit der Volksmacht« – Zirkusarbeiter in Lissabon (Foto: Klaus Steiniger)

Welche Rolle spielte dabei die MFA?

Die Revolution im Volke hat die MFA radikalisiert, vor allem (aber nicht nur) in den unteren Rängen. Die Militärs wollten auch keine Wirtschaftskrise. Also sagten sie zu den Besetzern: Macht das! Ich gebe euch ein Schreiben, darin steht, dass ihr dieses Land nutzen dürft, und ihr zahlt dem alten Besitzer eine symbolische Miete von, was weiß ich, 30 Escudos im Monat. Ihr dürft dort einen Gesundheitsposten einrichten und eine Kita, ihr dürft Leute einstellen und Produkte vermarkten. Ein kurzes Schreiben und damit war die Besetzung legal.

Die Parteien blieben also oft außen vor?

Den politischen Parteien, die immer die Kontrolle über alles haben wollen, hat das nicht gefallen. Das traf auch auf die KP zu, die am Anfang gegen die Landbesetzungen war. Die Kommunisten wollten zeigen, dass auch sie zuverlässige und anständige Partner sind.

Die Bodenreform wurde dann von der PCP aber doch stark forciert.

Ja, die Partei hat ihren Kurs später geändert, wollte nicht den Zug verpassen. Aber sie planten alles ein bisschen so wie in der Sowjetunion. Es entstanden dann Kooperativen, die mehr KP-orientiert waren, besonders dort, wo die Partei lokal viel Einfluss hatte, im Alentejo. Ein anderes Beispiel ist das Landgut Torre Bela im Ribatejo. Hier war die linksradikale LUAR die Geburtshelferin. Thomas Harlan drehte über die Besetzung und die Gründung der Kooperative von Torre Bela 1975 einen Dokumentarfilm.

Im »heißen Sommer« ‘75 roch es in Portugal nach Bürgerkrieg.

Vor allem im Norden gab es Anschläge. Sie richteten sich speziell gegen die Parteisitze der KP. Die Terroristen erhielten Geld von mit dem Estado Novo verbundenen Oligarchen wie dem Industriellen António Champalimaud und organisatorische Unterstützung von der im Norden besonders konservativen Kirche. Der ins Ausland abgehauene General Spínola versuchte Waffen zu kaufen, um eine Konterrevolution in Portugal zu starten, wie eine geheime Recherche von Günter Wallraff aufdeckte.

<p>Arbeiterinnen auf dem Weg zu einer Demonstration.</p>

Arbeiterinnen auf dem Weg zu einer Demonstration. (Foto: Klaus Steiniger)

Der Westen war vor allem wegen des revolutionären Prozesses besorgt …

Frankreich, Deutschland und Großbritannien, aber auch die USA, haben Druck gemacht. Portugal ist ja geostrategisch total wichtig. Schon wegen der Azoren. Es ist die Westflanke der Nato in Europa.

Wann deutete sich für Sie die Wende an?

Ich war dabei, als zu Beginn des Sommers ‘75 die PS in Lissabon eine Großkundgebung veranstaltete. Es ging da um Demokratie und Wahlen, die die Sozialisten erzwingen wollten. Vor allem wollten sie sich abgrenzen von den Kommunisten und anderen Linken: Diese wollten die Revolution fortsetzen, aber die PS und die konservativen Parteien wollten den Weg der anderen westeuropäischen Staaten einschlagen. Für die PS war dabei die KP der gefährlichste Gegner. Dabei war noch nicht so ganz klar, wo die KP hinwollte. Sie nahm eine Zwischenposition ein: einerseits Revolution, andererseits Bürgerlichkeit, Demokratie.

Am 25. November 1975 kam mit der Ausschaltung linker Militärs das abrupte Ende der Nelkenrevolution. Ein Umsturz sollte vereitelt worden sein. Wie sehen Sie das?

Der 25. November war nicht die Verhinderung eines Linksputsches (der nicht geplant war), sondern ein Putsch von rechts innerhalb des Militärs, um eine bürgerliche Demokratie, basierend auf dem Kapitalismus, zu erzwingen. Es wären aber auch andere Modelle für eine Demokratie denkbar, Modelle, die etwa auf einem sozialistischen Regime basieren.

Der Anfang August ›75 im »Dokument der Neun« geforderte Kurswechsel wurde von vielen Offizieren unterstützt.

Diese »Gruppe der Neun« innerhalb der MFA vertrat gemäßigte Positionen. Die neun haben zu den COPCON-Leuten mit Otelo an der Spitze so in der Art gesprochen: Kamerad, es darf nicht in Richtung Kuba gehen, das werden wir verhindern, sonst knallt es. Es waren also nicht die Linken, die Ernst machen wollten, sondern die anderen. Die COPCON-Leute wollten kein Blutbad, deshalb haben sie nachgegeben. Ihnen wurde klar, dass sie keine Chance hätten, schon gar nicht gegen die Nato.

Dann waren es Revolutionäre mit Realitätssinn?

Die militärische Linke ist aus Vernunftgründen praktisch zurückgetreten, hat auf die Durchsetzung ihrer Politik verzichtet. Der Gedanke war: Okay, dann retten wir davon wenigstens ein bisschen. Lieber die bürgerliche Gesellschaft, sonst kommt ein noch schlimmeres Regime oder ein Bürgerkrieg.

Wie viel April ist im heutigen Portugal noch übrig?

Für die Älteren, die ähnlich wie ich denken, war es ein schöner Traum, mit Idealen, die nur zu einem kleinen Teil verwirklicht wurden. Was weiter fehlt, ist die soziale Gleichheit, es gibt immer noch Arm und Reich. Wir haben jetzt ein System, das so korrupt und gierig ist wie überall im Westen. Das ist nicht das, was wir mit der Revolution wollten.

Interview: Peter Steiniger. Erschienen in nd Extra, 20.04.2024, S. 2-3