Tiefe Wurzeln, gerader Kurs

Der Epochenwechsel vor drei Jahrzehnten warf Sozialisten und Kommunisten in Europa weit zurück. Neoliberale Politik hat seitdem die Gesellschaften und das herrschende Bewußtsein tief geprägt. Die organisierte Linke erfährt, mit wenigen Ausnahmen, Niederlage auf Niederlage. Das politische Spektrum hat sich nach rechts verschoben. Italiens mächtige KP etwa wandelte sich zum sozialdemokratischen Verein. In Frankreich verlor die stolze FKP an Profil und sieht ihre Basis dahinschwinden. Viele der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen revolutionären Parteien befinden sich heute am Rande der Bedeutungslosigkeit, während weltanschaulich weit gefächerte Bewegungen Zulauf erhalten.

Allerdings gibt es ein „gallisches Dorf“, nicht zwischen Rhein und Mittelmeer, sondern am westlichen Rand des Kontinents. Die vor 100 Jahren gegründete Portugiesische Kommunistische Partei ist seit der Rückkehr des Landes zur bürgerlichen Demokratie als Ergebnis der Nelkenrevolution von 1974 durchgehend im Parlament vertreten. Sie regiert in vielen Kommunen und hat starken Einfluß auf die größte Gewerkschaftszentrale CGTP. Die PCP ist im politischen Leben, in den Betrieben und auf der Straße präsent – und selbst denjenigen flößt sie Respekt ein, die diese Partei, die so stoisch an ihrer marxistisch-leninistischen Identität festhält, schmähen oder als Anachronismus belächeln. Die KP verbiegt sich nicht für Machtoptionen, gleichzeitig arbeitet sie konstruktiv in den Parlamenten. Auch Kritiker und Gegner wissen um die Integrität und Verläßlichkeit der Kommunisten im politischen Geschäft.

Meine Bekanntschaft mit der PCP reicht bis in die Kindheit zurück. Von 1974 bis 1979 war mein Vater, Klaus Steiniger, als Korrespondent für Neues Deutschland in Lissabon aktiver Begleiter der politischen Kämpfe am Tejo. Dadurch hatte auch ich das Privileg, viele Dinge aus der Nähe miterleben zu können. Die Begegnung mit den Portugiesen, ihrer Mentalität und ihrem Land, in dem der Gegensatz von Arm und Reich brutal sichtbar war, prägte mich. Als junger Augenzeuge sah ich Streiks und Demonstrationen. Das Land, aus dem ich kam, schickte den neuen Kooperativen der Bauern im rückständigen Alentejo Landmaschinen. Im damaligen Portugal stimmte meine revolutionär-romantische Vorstellung von Kommunisten mit der Realität noch gut überein. In der DDR-Realität legte sich das. Wo ein Genosse war, war hier noch lange nicht die Partei, weil – wie mir mein Vater früh einprägte – „sie das Geld druckt und die Posten verteilt und deshalb Opportunisten und Karrieristen anzieht.“ Heute schwimmt Fett nicht weniger oben.

Als warmherziger Freund der Familie ist mir von damals António Dias Lourenço besonders in Erinnerung geblieben. Der langjährige Chefredakteur des KP-Zentralorgans „Avante!“ verstarb am 7. August 2010 im Alter von 95 Jahren. Dias Lourenço zählte zu den legendären Figuren des Widerstands gegen die klerikal-faschistische Diktatur in Portugal. Mit siebzehn Jahren hatte sich der gelernte Mechaniker der illegalen PCP angeschlossen, seit 1943 gehörte er ihrem Zentralkomitee an. Insgesamt siebzehn Jahre saß Dias Lourenço als politischer Gefangener hinter Gefängnismauern, erlitt Folter und Isolation. Im Dezember 1954 gelang ihm mit einem Sprung von der Festung Peniche in den eiskalten Atlantik eine spektakuläre Flucht, die in die Geschichtsbücher einging. An Land gelangt, half dem entflohenen KP-Funktionär spontan eine Gruppe von Fischern. Die Episode verdeutlicht das Ansehen dieser Partei bei den Arbeitenden als einzige organisierte Kraft, die seit 1926 durchgehend und opferreich auf den Sturz des Regimes hinarbeitete.

1960 war der damalige Direktor der klandestinen KP-Zeitung auch noch an der Organisation der Flucht von Álvaro Cunhal (1913-2005) und zehn weiterer führender Genossen aus Peniche beteiligt. Cunhal, seit 1961 PCP-Generalsekretär und bis zur Nelkenrevolution 1974 im Exil in Paris, Moskau und Prag lebend, prägte wie kein anderer Strategie wie Charakter seiner Partei. Für den „Kurs auf den Sieg“, wie er 1964 eine programmatische Schrift betitelte, orientierte er die PCP besonders auf den Kampf gegen die portugiesische Kolonialherrschaft in Afrika und auf die Arbeit in den Streitkräften. Als sich die nachrevolutionäre Krise zuspitzte und der sozialistische Traum im NATO-Gründungsstaat Portugal platzte, erwies sich Cunhal auch als Meister des klugen Rückzugs.

Auf den eurokommunistischen Zug ins Nirgendwo sprang er nicht auf, allerdings richtete Cunhal die Politik der PCP dezidiert auf Portugals Bedingungen aus. Jeden Personenkult um ihn unterband der Generalsekretär strikt. Auch als Künstler nahm Cunhal, der sich 1992 vom Amt zurückzog, Einfluß. Berühmt sind seine „Desenhos da Prisão“ (Gefängniszeichnungen), die im Dezember 1975 erstmals publiziert wurden. Unter dem Pseudonym Manuel Tiago verfaßte er mehrere Romane. In Büchern und Essays setzte er sich mit der Rolle der Kunst in der Gesellschaft auseinander. Als Intellektueller und wegen seiner Verdienste um Demokratie und Freiheit gilt Cunhal als eine der bedeutendsten Figuren in der modernen Geschichte Portugals. Als er am 13. Juni 2005 im Alter von 92 Jahren starb, ordnete die Regierung Staatstrauer an. Hunderttausende säumten in Lissabon die Straßen, um dem kommunistischen Politiker ein letztes Geleit zu geben.

Die PCP war und ist die Partei von Álvaro Cunhal. Sein Vermächtnis prägt sie bis auf den heutigen Tag. Auch der aktuelle Parteivorsitzende Jerónimo de Sousa stammt aus dieser Schule. Nur zwei Tage vor Cunhal war auch sein enger Weggefährte Vasco Gonçalves gestorben. „Companheiro Vasco“ war einer der führenden Köpfe der Bewegung der Streitkräfte (MFA) und stand 1974/75 an der Spitze der am weitesten links stehenden Provisorischen Regierungen. Von Besuchen mit der Familie in der Wohnung des Generals, eines gebildeten Marxisten, und von späteren Begegnungen auf dem kommunistischen Volksfest „Festa do Avante!“ ist mir die Freundlichkeit und Bescheidenheit des populären früheren Ministerpräsidenten noch gut in Erinnerung.

„Es gibt kein Fest wie dieses“, lautet mit Recht ein Motto des Events: Das seit 1976 jährlich Anfang September veranstaltete dreitägige Pressefest ist eine Visitenkarte der PCP. Es zieht weit mehr Menschen an als die namensgebende Zeitung Leser. Als Kind half ich am DDR-Stand auf diesen Festen mit, Ruhla-Taschenuhren und diverse Souvenirs aus dem Arbeiter-und-Bauern-Staat unters Volk zu bringen. In den 90er Jahren nahm ich die Tradition wieder auf, organisierte etliche Touren zur „Festa do Avante!“ Die besondere Ausstrahlung der Festivals in Amora bei Lissabon entsteht aus der Zusammenarbeit Tausender Freiwilliger, die es erst möglich machen. Hier läßt sich erleben, daß die PCP Menschen aus allen Berufen in ihren Reihen hat, daß ihre Traditionen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie ist keine Apparat-Partei, auch wenn sie wegen ihrer perfekten Organisation als Portugals Preußen gelten darf.

Mit dem Avante-Fest verbinde ich auch meinen größten sportlichen Erfolg. Zu dessen vielen Attraktionen – Konzerten, Ausstellungen, Theater, Foren – gehört auch ein gewaltiges Sportfest mit diversen Disziplinen. Im Jahr 2002 traten dort zwei Berliner Teams beim Fußballturnier an. Im Programmheft hatte man uns groß angekündigt. Die eine zusammengewürfelte Auswahl nannte sich „Stay Rebel Team“. Ich selbst spielte in den Reihen von „Vorwärts Roter Bär“, einer sehr amateurhaften Auswahl der hauptstädtischen PDS. Die beiden Gegner aus Portugal waren echte Fußballvereine mit gut geschulten Spielern im professionellen Outfit. Warum überraschte mich das eigentlich? Nach Losglück und dem Ausschalten der „Rebellen“ standen wir „Roten Bären“ auch schon im Finale. In diesem Spiel schafften wir es nie über die Mittellinie und verloren ehrenvoll. Feierlich überreichte man uns einen großen Pokal für den zweiten Platz und hängte uns Medaillen um den Hals.

Die Geschichte der PCP ist nicht nur eine des Erfolgs. Das Verschwinden des sozialistischen Lagers schlug auch auf die Kommunisten in Portugal durch. Sie durchlebte innerparteiliche Auseinandersetzungen, erfuhr Abspaltungen und büßte Wähler ein. Ihre Rituale und ihre häufig formelhafte Sprache erschweren den Zugang zu neuen Schichten, ebenso Veränderungen der Sozialstruktur der Gesellschaft. Mit dem pluralen Linksblock (Bloco de Esquerda, BE) entstand 1999 eine starke Konkurrenz, die insbesondere für Jüngere und in städtischen akademischen Milieus attraktiv ist. Mittlerweile ist der Umgang miteinander mehr von Kooperation in der Sache als von Eifersucht geprägt. Die zwei Organisationen binden heute das Spektrum links der Sozialisten. Bei nationalen Wahlen holen beide zusammen etwa so viel, wie das kommunistisch geführte Wahlbündnis in seiner Hochzeit Mitte der 80er mit 18 Prozent.

Das Überleben der KP war längst keine Selbstverständlichkeit. In einer Hommage des Journalisten (und PCP-Mitglieds) Pedro Tadeu in der linksliberalen Tageszeitung „Diário de Notícias“ geht dieser auf die Rolle des Parteivorsitzenden der Jahre 1992 bis 2004 ein: „Alles sprach gegen die Portugiesische Kommunistische Partei, aber die Führung unter Carlos Carvalhas erzielte weitaus bessere Ergebnisse, als es die Propheten der damaligen Zeit vorhersagten, und nicht nur bei den Wahlen, sondern auch hinsichtlich Handlungsfähigkeit und Massenmobilisierung. Den größten Verdienst daran, in der portugiesischen Gesellschaft relevant zu bleiben, als alles auf einen Niedergang der PCP hindeutete, haben natürlich die Mitglieder der Partei selbst, mit ihrer Art zu arbeiten und sich zu organisieren, die ererbte politische Kultur und die Verwurzelung in der portugiesischen Gesellschaft – aber Carvalhas leitete in diesen Zeiten, und diese Tatsache kann nicht ignoriert werden.“ Seit ihrem 20. Parteitag im vergangenen Dezember in Loures bei Lissabon gehören Carvalhas und weitere historische Führer nicht mehr dem Zentralkomitee an. Zur politischen Kultur der portugiesischen KP gehört auch, daß die Leitungsebene regelmäßig verjüngt wird.

Auch für den aktuellen 73jährigen Vorsitzenden Jerónimo de Sousa ist das „Gesetz des Lebens“ kein Tabu, wie er betont. Bei der Präsidentschaftswahl Ende Januar, die erwartungsgemäß den Konservativen Marcelo Rebelo de Sousa im Amt bestätigte, trat für die PCP der 42jährige EU-Parlamentarier João Ferreira an, rückte so stärker in die Öffentlichkeit. In der komplizierten Situation, die Portugal wirtschaftlich und sozial mit der Coronakrise erlebt, ist die Partei keineswegs abgetaucht, sondern nimmt ihre politischen Rechte aktiv wahr. Zum 100. Jahrestag ihrer Gründung am 6. März, dem „Centenário“, blickt sie auf ein beeindruckendes Leben – mit vielen schweren Jahren – zurück. Nicht nur angesichts ihres stolzen Alters hat sich die PCP gut gehalten.

Von Peter Steiniger. Veröffentlicht in RotFuchs – Tribüne für Kommunisten, Sozialisten und andere Linke, Nr. 278, April 2021, Beilage „100 Jahre PCP“, Seite 9, Download