Ein Held des 25. April

Mit Otelo Saraiva de Carvalho hat Portugal eine prägende Figur der Nelkenrevolution 1974 verloren

Er war das Gesicht des radikal-linken Flügels der Bewegung der Streitkräfte (MFA) im revolutionären Prozess nach dem Sturz des Faschismus in Portugal am 25. April 1974. Otelo Saraiva de Carvalho stand an der Spitze von Soldaten, die beflügelt vom Zeitgeist jener Jahre versuchten, eine wirkliche Volksmacht in dem kleinen iberischen Land zu verwirklichen. Sie halfen bei der Besetzung von Fabriken, Medienhäusern und von Ländereien der Latifundisten. Mit dem Tod von Otelo, wie ihn die Portugiesen kurz nennen, am 25. Juli in einem Lissabonner Militärkrankenhaus haben sich die Reihen der prominenten 1974er Revolutionäre weiter gelichtet. Der Umgang mit dem Todesfall von offizieller Seite wirft zugleich ein Licht auf Bestrebungen, Teile der Geschichte auszublenden oder umzuschreiben. Für den Helden Otelo, Schlüsselfigur des Aufstands gegen das alte Regime, gab es, anders als üblich, keine Staatstrauer. Dafür einen lauen Nachruf des Staatspräsidenten, in dem dieser politische Irrwege des Militärs gewissermaßen gegen seine Verdienste aufwog.

Für die Geschichte sei es „noch zu früh“, ließ Marcelo Rebelo de Sousa verlautbaren, Otelo „mit dem gebührenden Abstand zu würdigen“. Der Sohn eines Kolonialgouverneurs und Ministers während der Diktatur flüchtete sich in Ausgewogenheit: „Jedoch scheint der große Beitrag, den er am 25. April hatte, unbestreitbar, das Symbol, welches er für die politisch-militärische Linie während der Revolution darstellte, die in der Erinnerung vieler Portugiesen mit widersprüchlichen Bestrebungen zu Beginn unserer Demokratie verbunden ist und sowohl Leidenschaften als auch Ablehnung hervorrief.“

Über Differenzen hinweg parierte das António Ramalho Eanes, Präsident der Jahre 1976 bis 1986: Otelo habe „Anspruch auf einen Platz in der Geschichte“, das Land verdanke ihm Freiheit und Demokratie. Was man Otelo schulde, dem könne sich „nichts und niemand entziehen“. Eanes hatte 1975 großen Anteil daran, den revolutionären Prozess abzuwürgen und Otelo aus dem Spiel zu nehmen. Zugleich stellte er sich damals gegen rechte Bestrebungen nach Revanche und Abrechnung.

Es ist nicht allein die schwierige Vita des Mannes, die viele Portugiesen über Otelo entzweit. Die Geschichtsrevisionisten, die im bürgerlichen Lager an Gewicht gewonnen und die mit der rechtsextremen Partei Chega von André Ventura mittlerweile auch ein parlamentarisches Sprachrohr haben, verzeihen ihm den 25. April nicht. Schließlich war Otelo – unter dem Decknamen Oscar – der Stratege und operative Leiter der nahezu unblutigen Militäraktion, die in Lissabon die diktatorische Regierung von Marcelo Caetano stürzte und damit auch das Ende des portugiesischen Kolonialreiches besiegelte.

Eine umstrittene Figur ist Otelo allerdings auch auf der Linken. Da waren zum einen die taktischen und die grundsätzlichen Differenzen zu Otelos Linie, die ins Ultralinke driftete. In den 80er Jahren wurde ihm dieses Milieu zum Verhängnis. Otelo theoretisierte für die Gruppierung FP-25, die sich als Stadtguerilla sah, sich mit Banküberfällen finanzierte und blutige Anschläge verübte, um die Gesellschaft zu destabilisieren und ihren utopischen Zielen näherzukommen. Eine Mitgliedschaft oder Führungsrolle in der FP-25 hat Otelo stets abgestritten, die Ermittlungen gegen ihn brachten wenig zutage. FP-25 war nur eine von mehreren Splittergruppen von links und rechts, die im nachrevolutionären Portugal Gewalttaten verübten. Eröffnet worden war dieser Krieg bereits im „heißen Sommer“ 1975, als faschistische Organisationen in Nordportugal und auf den Inseln eine Terrorwelle gegen linke Strukturen entfacht hatten. 1984 verhaftet, saß Otelo fünf Jahre lang in Untersuchungshaft und wurde zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Dahinter vermutete er ausgerechnet einen Racheakt der Kommunisten.

Auf das juristische Tauziehen mit Haftverschonung und einem neuen Verfahren folgte 1996 endgültig die Freiheit auf dem Wege einer Amnestie. Dafür eingesetzt hatte sich der damalige Staatspräsident Mário Soares von der Sozialistischen Partei (PS). Am Ende seiner zweiten Amtszeit und nachdem er die sozialistischen April-Träume erfolgreich begraben hatte, setzte Soares auf die Befriedung der Gesellschaft. In der Versammlung der Republik stimmten neben der PS auch die Abgeordneten der Kommunisten (PCP) und der Grünen (PEV) für die FP-25-Amnestie.

Von einem Massenanhang konnte bei Otelo bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr die Rede sein. Dennoch hat sich der charismatische Militär tief in das Gedächtnis seiner Zeitgenossen eingebrannt, ist ein Symbol für den MFA geblieben. Bei den ersten Präsidentschaftswahlen nach der Wiederherstellung der Demokratie hatten 1976 für den linken Außenseiter immerhin 800 000 Portugiesinnen und Portugiesen gestimmt.

Der Mann, der beim Schlussakt des 1933 installierten Estado Novo eine Hauptrolle spielte, hatte ursprünglich Schauspieler werden wollen. Geboren worden war er am 31. August 1936 in Lourenço Marques, wie die Hauptstadt von Mosambik, Maputo, damals noch hieß. Seinen Vornamen hatte er nach der Shakespeare-Gestalt des Othello erhalten. 1961 wurde er von der portugiesischen Armee rekrutiert und diente zunächst in Angola, später in Guinea-Bissau. Dort schloss sich der Hauptmann der Artillerie der Bewegung der Hauptleute an, die sich gegen den blutigen, das Mutterland ruinierenden Kolonialkrieg gegen die Befreiungsbewegungen in Afrika wandte, und aus der der MFA hervorging.

1974 stand Portugal militärisch und wirtschaftlich am Abgrund. Die nach 1945 in den westlichen Block eingebundene Diktatur von António de Oliveira Salazar hatte auf vielen Gebieten den Rückschritt im Land konserviert, die Opposition wurde brutal unterdrückt. Sein Nachfolger Marcelo Caetano hatte seit 1968 mit halbherzigen Reformen versucht, das überholte System am Leben zu erhalten. Der Zusammenbruch des Kartenhauses wurzelte nicht zuletzt im Wirken der illegalen KP in den Streitkräften. Eine vom Kampf gegen den Kolonialkrieg in Afrika ausgehende Strategie zum Sturz des Regimes hatte PCP-Generalsekretär Álvaro Cunhal 1964 in seiner Schrift „Kurs auf den Sieg“ dargelegt. Auch die Arbeit der Kommunisten in den illegalen Gewerkschaften trug in der durch den 25. April ausgelösten revolutionären Bewegung in den industriellen Zentren und im ländlichen Proletariat Früchte. In Afrika war Otelo ins Blickfeld des Militärgouverneurs von Portugiesisch-Guinea, António de Spínola, geraten. Der erzkonservative General wurde nach der Nelkenrevolution als „neutraler“ Übergangspräsident eingesetzt.

Von der ersten Minute an konspirierte Spínola gegen eine Linksentwicklung im Land. Das Kolonialreich wollte er in reformierter Form retten. Otelo übertrug er im Juni 1974 den Oberbefehl über die Militärregion Lissabon und das Operative Kommando des Kontinents (Copcon), eine Eingreiftruppe zu Aufrechterhaltung der Ordnung im Inneren. Vom Major stieg Otelo zum Brigadegeneral auf. Begeistert zeigte sich Otelo allerdings mehr von der neuen Ordnung und der direkten Arbeiterdemokratie. Copcon wurde zu einem Sammelpunkt linker Militärs. Die Truppe beteiligte sich an Kampagnen zur kulturellen Dynamisierung, schlug zwei Putschversuche des Spinola-Lagers mit zurück. Den Richtungskampf innerhalb des MFA konnte die radikale Linke allerdings nicht für sich entscheiden. Am 25. November 1975 wurden das Copcon und Otelo entmachtet, fand der revolutionäre Prozess sein Ende. Unter Mitnahme demokratischer und sozialer Errungenschaften schwenkte das NATO-Land Portugal auf die kapitalistische Normalität im Westen Europas ein.

Als sich Portugal während der Eurokrise dem Spar- und Reformdiktat der EU-Troika unterwarf, wünschte sich Otelo einen „neuen 25. April“. Die etablierte Politik möchte die Utopien, die sich mit diesem Tag verbanden, allerdings nicht wiederbelebt sehen. Auch deshalb tut sie sich schwer mit dem unbequemen Toten. Für den Präsidenten der „Vereinigung 25. April“, Oberstleutnant Vasco Lourenço, war Otelo ein „Mann von ungeheurem Mut“, der „stets seinen Idealen folgte“.

Von Peter Steiniger. Veröffentlicht in RotFuchs – Tribüne für Kommunisten, Sozialisten und andere Linke, Nr. 282, September 2021, Seite 6