Zeichen stehen auf Sturm

Brasiliens Linkskräfte stehen vor einer wichtigen Kraftprobe. Mit landesweiten Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen wollen sie am 28. April einen neuen Höhepunkt der Proteste gegen die dann gut seit einem Jahr im Amt befindliche Regierung von Präsident Michel Temer markieren. Der Generalstreik, zu dem nach Befragungen der Basis sämtliche Gewerkschaftszentralen gemeinsam aufrufen, neben der klassenkämpferischen Central Única dos Trabalhadores (CUT) haben sich unter anderen auch die Schwergewichte Força Sindical und União Geral dos Trabalhadores (UGT) angeschlossen, wird unter dem Motto „Nationaler Tag, um Brasilien stillstehen zu lassen“ laufen. Hierzu dürften vor allem auch die Beschäftigten im Transportsektor beitragen, darunter die Angestellten der Metro von São Paulo und die dortigen Busfahrer. Ebenso die Landlosenaktivisten der MST und die in den Favelas der Großstädte verwurzelte Bewegung MTST, die Straßenblockaden an vielen Stellen des Landes angekündigt haben.

Der Kampftag richtet sich gegen Privatisierungen und sogenannte Reformen, mit denen das Arbeitsrecht ausgehöhlt, die Leiharbeit ausgeweitet und die sozialen Sicherungssysteme heruntergefahren werden sollen. Einen der größten Generalstreiks in der Geschichte Brasiliens erwartet CUT-Präsident Vagner Freitas. Dieser werde eine „energische Antwort der Arbeitenden auf Temers Reformen“ darstellen.

Besonders der beabsichtigte Umbau der Sozialversicherung treibt die Gewerkschaften auf die Barrikade. Dieser greift nach den Rentenansprüchen von Millionen. Für volle Altersbezüge sollen künftig 49 Beitragsjahre nachzuweisen sein, das Renteneintrittsalter für Männer und Frauen soll auf 65 Jahre angehoben werden und künftig weiter steigen. Sonderregelungen für Landarbeiter würden entfallen. Wer nicht wenigstens 25 Jahre in die Kassen eingezahlt hat, soll leer ausgehen. Die Entrichtung solcher Sozialbeiträge ist vielen prekär Beschäftigten oder über längere Zeit Erwerbslosen nicht möglich.

thumbnail of jw-2017-04-20-Zeichen_stehen_auf_SturmDie Reform, die noch beide Kammern des Parlaments passieren muss, fällt in eine Zeit, in der nach dem Einbruch der Exporte Tag für Tag Tausende Arbeitsplätze verlorengehen. In Rio de Janeiro und anderswo sind die Administrationen bei den Löhnen der öffentlich Bediensteten im Rückstand. Den Angriff auf die Renten sehen die Gewerkschaften als soziale Demontage an, die für viele Armut oder „Arbeit bis zum Tod“ bedeuten würde. Mit kleineren Korrekturen an ihren Plänen versuchte die Temer-Regierung, ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mit einer Einschüchterungskampagne droht die rechtsopportunistische Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) des Präsidenten zugleich damit, Sozialprogramme aus der Ära der Arbeiterpartei (PT) zu beerdigen, sollte die Rentenreform nicht durchgesetzt werden.

Im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit steht weniger das politische Programm, das konservative Sektoren mit Hilfe der Temer-Regierung exekutieren. Das Publikum wird mit Skandalberichten über den Korruptionsfilz und schwarze Parteikassen fixiert. Gegen sechs Minister aus Temers aktuellem Kabinett laufen Ermittlungen, den Präsident selbst schützt sein Amt davor. Mehr als hundert führende Politiker, die meisten aus dem konservativen Lager, von PMDB und PSDB, hat Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot auf einer Liste, weil sie als Geldempfänger des Odebrecht-Konzerns verdächtigt werden. Es geht um millionenschwere illegale Provisionen im Zusammenhang mit Auftragsvergaben und politische „Landschaftspflege“. Praktiken, die in Brasilien seit Jahrzehnten mit dem politischen Geschäft verbunden sind. Die Blockade einer Politikreform, aufwendige Wahlkämpfe und der traditionelle Klientelismus machen hier „zweite Kassen“ fast unumgänglich. In vielen Fällen geht dies Hand in Hand mit persönlicher Bereicherung.

Odebrecht-Chef Marcelo Odebrecht und andere Manager erkaufen sich nun als Kronzeugen der Ankläger der „Lava Jato“-Ermittlungsgruppe Strafnachlässe. Aussagen ersetzen objektive Beweise, werden von Ermittlungsrichter Sérgio Moro zur politischen Manipulation genutzt. Das bekommt vor allem Expräsident Luiz Inácio Lula da Silva von der PT zu spüren, der sich konstruierten Anklagen, juristischen Schikanen und einem Feuerwerk der Globo-Medien ausgesetzt sieht.

Von Peter Steiniger, erschienen in: junge Welt vom 20.04.2017, S. 6, Link