Trügerische Harmonie

Am 24. Januar stimmen die über neun Millionen wahlberechtigten Portugiesen über ihr Staatsoberhaupt während der kommenden fünf Jahre ab. Im politischen System des iberischen Landes nimmt der Präsident eine Vermittlerrolle ein, die über die repräsentative Funktion des Amtes hinausreicht. So kann er etwa das Parlament auflösen oder mit seinem Veto Gesetze blockieren. Aller Voraussicht nach wird der bisherige Staatschef Marcelo Rebelo de Sousa bereits im ersten von zwei möglichen Wahlgängen spielend die nötige absolute Mehrheit für eine zweite Amtsperiode erhalten. Der ausgleichend-leutselige Konservative besitzt eine landesväterliche Popularität, die das Rennen für die anderen Kandidaten nahezu aussichtslos macht. Der Zusammenarbeit der seit 2015 regierenden sozialdemokratischen Sozialisten (PS) mit den sie tolerierenden Parteien links von ihr hat „Marcelo“, wie er in Portugal allgemein genannt wird, keine Knüppel zwischen die Beine geworfen. Diese seit den Wahlen 2019 nicht mehr förmliche Kooperation hatte einige soziale Verbesserungen ermöglicht. Nun dürfte die durch die Corona-Einschränkungen ins Rollen gebrachte wirtschaftliche und soziale Krise das Bedürfnis der Portugiesen nach politischer Stabilität und Kontinuität noch gestärkt haben.

Besonders hart hat es Portugals Tourismusindustrie getroffen, die mit ihrem Aufschwung in den vergangenen Jahren stark zur wirtschaftlichen Erholung des Landes nach langer Talfahrt beitrug. Die Zahl der Besucher aus dem europäischen Ausland sank 2020 rapide, die aus Übersee blieben nahezu ganz weg. Relativ glimpflich kam noch die Urlaubsregion Algarve davon, während Lissabon und der deutlich stärker von der Pandemie betroffene Norden erhebliche Rückgänge erlebten. Allein die Hotels verzeichneten im vergangenen Jahr einen Rückgang der Einnahmen um 80 Prozent. Viele Jobs, nicht nur im Gastgewerbe, haben sich in Luft aufgelöst, die offizielle Arbeitslosenrate stieg auf annähernd acht Prozent. Löhne und Gehälter sind ohnehin niedrig, prekäre Beschäftigung ist verbreitet. Nicht einmal jeder zweite Erwerbslose hat Anspruch auf Arbeitslosenhilfe. Im dritten Trimester des Jahres ging Portugals Bruttoinlandsprodukt nach einer wirtschaftlichen Erholungsphase im Sommer noch einmal um knapp sechs Prozent zurück. Die eigentliche Pleitewelle kleiner und mittlerer Unternehmen steht aber auch hier mit dem Ende von Überbrückungshilfen erst noch bevor.

Die Minderheitsregierung von António Costa ist, auch angesichts der strukturellen Probleme des exportabhängigen Landes, nun stark auf Gelder und Kredite aus dem Corona-Hilfspaket der Europäischen Union angewiesen. Die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit Portugals von den EU-Schwergewichten wird damit wieder zunehmen, auch wenn der EU-Ratsvorsitz turnusmäßig zu Jahresbeginn von Berlin zu Lissabon wechselte. Im Rennen um Portugals höchstes Staatsamt haben Costas Sozialisten schon vor der Startlinie die Segel gestrichen. Der Verzicht der PS auf jedwede Wahlempfehlung kommt einer für das amtierende Staatsoberhaupt von der rechtsliberalen PSD gleich. Die Kandidatur der Sozialistin Ana Gomes mit maoistischer Jugendsünde und langer Karriere im diplomatischen Dienst, von 2004 bis 2019 PS-Abgeordnete im Europaparlament, wird also von der eigenen Parteiführung nicht unterstützt. Gomes, die zum linken PS-Flügel gehört, kann sich trotz eines sehr bescheidenen Etats für ihre Kampagne Hoffnungen auf das zweitbeste Ergebnis bei den Präsidentschaftswahlen machen. Den Verzicht der PS auf eine eigene Kandidatur kritisiert sie als Entwertung dieses demokratischen Prozesses. Ebenso die enge Anlehnung des Premiers an den konservativen Präsidenten. Ohne ihren Antritt gebe es „keinen Kandidaten aus dem Feld des Demokratischen Sozialismus“, so Gomes.

Fünf weitere Kandidaten vervollständigen das Feld, zwei davon fallen unter „ferner liefen“. Vom rechten Rand aufrollen möchte es der Chef und einzige Parlamentsabgeordnete der rechtsradikalen Partei Chega, André Ventura. Bereits Ende Februar 2020 hatte er seine Kandidatur angekündigt. Ventura geht mit Nationalismus, Geschichtsrevisionismus, Hetze gegen Minderheiten und Einwanderer und populistischen Stammtischparolen auf Stimmenfang. Der Jurist und TV-Sportkommentator Ventura begann seine politische Karriere in der PSD. Im April 2019 gründete er die auf ihn zugeschnittene, angeblich gegen „das System“ opponierende Chega, eine portugiesische Entsprechung zur AfD mit deutlicher Nähe zu faschistischen Gruppierungen. Bei den Europawahlen im Mai 2019 konnte Chega noch nicht punkten. Begünstigt vom portugiesischen Wahlsystem gelang Ventura jedoch im Herbst desselben Jahres in Lissabon der Sprung in die Versammlung der Republik. Das verschaffte ihm ein Plus an Öffentlichkeit. Seine Kandidatur bezeichnet er als „erste gegen das Regime“ seit dem Sturz der klerikal-faschistischen Diktatur am 25. April 1974. Ventura gibt sich überzeugt, dass er ein „exzellentes Ergebnis“ erzielen und in eine Stichwahl gegen Präsident Marcelo einziehen wird.

Tatsächlich dürfte diese Wahl den Rechtsradikalen einen weiteren Zuwachs an Bedeutung bescheren. Dazu trägt die Normalisierung der Extremisten durch die bürgerlichen Oppositionsparteien bei. Nachdem die Sozialistische Partei Ende Oktober bei den Regionalwahlen auf den Azoren ihre absolute Mehrheit verloren hatte, schloss die PSD dort einen Pakt zur Regierungsbildung mithilfe von Chega, die es knapp ins Regionalparlament geschafft hatte.

Sympathien für rückwärtsgewandte Kräfte lassen nicht nur der rechte Flügel der PSD und ihr Vorsitzender Rui Rio erkennen, auch Teile der portugiesischen Medien wirken dabei als Verstärker. Auch in Portugal sind Teile der Bevölkerung anfällig für autoritäre Politikkonzepte und in den Sicherheitsbehörden findet sich rechter Korpsgeist. Im Dezember musste der Chef des Zoll- und Grenzschutzes (SEF) wegen des Skandals um den Tod des Ukrainers Ihor Homeniuk am 11. März 2020 auf dem Lissabonner Flughafen zurücktreten. Der 40jährige, der ohne Visa einzureisen versucht hatte, war von SEF-Inspektoren so schwer misshandelt worden, dass er starb.

Den Wählern fortschrittliche Alternativen bieten der plurale Linksblock (BE) und die ebenfalls im Parlament in Fraktionsstärke vertretene Kommunistische Partei (PCP) an. Für den „Bloco“ tritt bei den Präsidentschaftswahlen, wie bereits vor vier Jahren, ihre Spitzenpolitikerin Marisa Matias an. Vor fünf Jahren hatte die Europaparlamentsabgeordnete bei den Präsidentschaftswahlen jede zehnte gültige Stimme erhalten. Matias dürfte erneut ein respektables Ergebnis erzielen. Darauf hofft auch der Vizevorsitzende der Linksfraktion im EU-Parlament (GUE/ NGL) João Ferreira. Auf dem 21. Kongreß der Marxisten-Leninisten im November 2020 war der 42-jährige Biologe in die Politische Kommission des Zentralkomitees der PCP gewählt worden.

Generalsekretär Jerónimo de Sousa, seit 2004 im Amt, wurde auf dem Parteitag wiedergewählt. Er war, jetzt 73jährig, 2006 auch einmal als Präsidentschaftskandidat für die PCP angetreten. Im März begeht Portugals älteste Partei ihren 100. Gründungstag.

Von Peter Steiniger. Veröffentlicht in RotFuchs – Tribüne für Kommunisten, Sozialisten und andere Linke, Nr. 276, Januar 2021, Seite 14, Link