Reaktorlotterie

Der Pannenteufel hat wieder zugeschlagen. Diesmal trieb er sein Unwesen im Kraftwerk Ringhals, dem größten Kernenergielieferanten Schwedens. In dem in Hallands Län, nahe Göteborg, gelegenen AKW war am vergangenen Freitag ein Leck im Primärkühlwasserkreislauf von Block zwei aufgetreten. Der Druckwasserreaktor gilt als besonders zuverlässig.

Die Anlage mußte zu Untersuchungszwecken heruntergefahren werden. Gefahr für die Mitarbeiter oder die Umwelt habe nicht bestanden. „Das ist nichts Ernstes“, beschwichtigte Produktionschef Lars Eliasson. Gegenüber Göteborgs-Posten bemängelte hingegen Anders Jerregård, Inspektor der staatlichen Aufsichtsbehörde SKI (Statens Kärnkraftinspektion), daß es vom Bekanntwerden des Defekts bis zu Konsequenzen fast zwei Wochen gedauert habe. „Wir kritisieren, daß man den Betrieb fortsetzte, obwohl bekannt war, daß es ein Problem gab, dessen Ursache nicht geklärt war.“ Ringhals Aktiebolag ist ein Gemeinschaftsunternehmen des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall mit der deutschen E.on AG. Das Kraftwerk in Ringhals verfügt über vier Reaktorblöcke mit einer Gesamtleistung von 3560 Megawatt. Damit kann es bis zu 20 Prozent des schwedischen Strombedarfs decken.

Brände und Lecks

Erst im November 2006 hatte in Ringhals ein Brand in einem der Haupttransformatoren von Block drei eine Reaktorabschaltung notwendig gemacht. Damit nicht genug: Auch die beiden anderen schwedischen ­Atomanlagen – in Oskarshamn sowie in Forsmark nördlich von Stockholm – machten von sich reden. Der schwerste Zwischenfall ereignete sich am 26. Juli 2006, als im Vattenfall-AKW Forsmark während eines Stromausfalls ein Teil der Notstromversorgung und andere Sicherheitssysteme versagten. Nach Einschätzung von Experten entging einer der drei Siedewasserreaktoren nur dank einer Notabschaltung einer möglichen Kernschmelze. Ein solcher GAU hätte katastrophale Auswirkungen auf ganz Nordeuropa gehabt. Forsmark beherbergt auch die schwedische Endlagerstätte für schwach und mittelstark strahlenden radioaktiven Abfall. Nur eine Woche später zog Oskarshamn (Mehrheitseigner ist E.on Schweden) als Problemfall nach. Auch hier war ein Versagen der Notfallaggregate nicht auszuschließen. Zwei der drei Reaktoren gingen zeitweilig vom Netz. Während es in Ringhals tropft, strahlt es jetzt in Oskarshamn – aber am falschen Ort. Durch ein Leck traten kleinere Mengen Radioaktivität aus. Dies stelle keine Gefahr dar, sei allerdings „nicht zufriedenstellend“, so ein Unternehmenssprecher.

Als nicht zufriedenstellend sieht auch ein wachsender Teil der schwedischen Öffentlichkeit die Reaktionen von Behörden und Atomkraftwerksbetreibern. Die Staatliche Kernkraftinspektion hatte die Sicherheitsroutinen in den Werken überprüfen lassen. Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluß, daß Rapporte zu „meldepflichtigen Ereignissen“ oft ungenügend und flüchtig abgefaßt waren. Sie monierten unterschiedliche Unternehmenskulturen in Sicherheitsbelangen. In die Kritik geraten sieht sich vor allem Energielieferant Vattenfall. Wirtschaftsministerin Maud Olofsson (Zentrumspartei) zeigte sich unzufrieden mit dem Krisenmanagement des Konzerns. Am 2. Februar war in Forsmark auch noch Reaktor Nummer eins abgeschaltet worden. Entgegen geltenden Sicherheitsbestimmungen blieb er vorher sieben Monate lang mit einer defekten Gummidichtung in Betrieb. Direktor Lars Fagerberg mußte seinen Hut nehmen. „Das Ganze ist für uns Politiker zu einem Problem geworden, denn wir tragen die Verantwortung sowohl für die Sicherheit der Bürger wie der Elektrizitätsversorgung.“ Zwischen der Politik und dem Vattenfall-Konzern bestehe dringender Diskussionsbedarf, so die Ministerin gegenüber Dagens Nyheter.

Abhängig von Atomstrom

Vattenfall hat die Flucht nach vorn angetreten und spricht sich für eine Überprüfung der Werke durch die Internationale Atomenergieaufsichtsbehörde IAEA aus. Die schwedischen Umweltbehörden haben jetzt offiziell deren Inspektoren angefordert. Als erstes soll das fehlerträchtige Werk in Forskmark unter die Lupe genommen werden.

Das An und Aus bei den schwedischen AKW belebt eine kontroverse Debatte aus der jüngeren Geschichte des Landes. Nach einer Volksabstimmung 1980 hatte der Reichstag den schrittweisen Ausstieg aus der Nutzung der Atomkraft beschlossen. Bis 2015 sollte die energiepolitische Wende eigentlich vollzogen sein. Davon ist längst keine Rede mehr. Nur zwei altersschwache der zwölf schwedischen Reaktoren wurden stillgelegt. Fast die Hälfte der Elektrizität des Landes wird aus Kernenergie gewonnen. Nur Frankreich und die Slowakei sind noch abhängiger von der Risikotechnologie. Einen Anschluß an die geplante deutsch-russische ­Gastrasse durch die Ostsee hatte die schwedische Regierung verworfen. Das Programm der Mitte-rechts-Koalition von Staatsminister Fredrik Reinfeldt sieht für die laufende Mandatsperiode keine Stillegung von Kernkraftwerken vor.

Von Peter Steiniger. Quelle: https://www.jungewelt.de/2007/02-19/020.php