Gefährlicher Zwischenfall

Nach der Explosion am Dienstag im polnischen Dorf Przewodow nahe der ukrainischen Grenze, die tragischerweise zwei Todesopfer gefordert hat, werden bei den Diskussionen im Netz wieder einmal gewagte historische Parallelen gezogen. Natürlich hat der ukrainische Präsident Selenskyj den Anlass benutzt, um eine direkte Verwicklung der Nato in den Krieg herbeizureden. Eine dazu geeignete Inszenierung wäre aber sicher eine Nummer größer als das Bombardement eines Traktors. Das deutet nicht auf eine versuchte Provokation von Seiten der Ukraine.

Die steckt trotz ihrer militärischen Erfolge in der Klemme: Mittelfristig wird eine Fortsetzung des Krieges die eigenen Kräfte aufbrauchen und das Land verwüsten und ausbluten. Ihre westlichen Verbündeten wiederum wissen, dass ein direkter Krieg gegen eine Atommacht nicht oder nur mit einem selbstmörderischen Risiko gewinnbar ist. Auch eine vollständige Destabilisierung Russlands muss nicht zu aus der Sicht des Westens wünschenswerten Folgen führen.

Nicht umsonst hat der Nationale Sicherheitsberater des Weißen Hauses, Jake Sullivan, Kiew unlängst zu mehr Realismus aufgefordert, wohl auch mit Blick auf die Krim. Einen solchen kann man sich dort hinsichtlich der Kriegsziele aber innenpolitisch kaum erlauben. Schließlich hat die russische Aggression zwangsläufig neuen Hass gesät und einen Nationalismus angefeuert, der selbst vor Puschkin-Denkmälern nicht Halt macht. Verhandlungsbereitschaft der ukrainischen Seite kann nur von außen durch ihre Zahlmeister herbeigeführt werden.

Hinter dem Unglück von Przewodow stehen noch einige Fragezeichen. Kein Fragezeichen steht dahinter, dass Russlands Position, mit dem Vorfall nichts zu tun zu haben, zynisch ist. Schließlich finden gerade massive Angriffe auch auf zivile Infrastruktur der Ukraine statt. Möglicherweise mit dem Ziel, die Lage der Menschen dort im Winter so unhaltbar zu machen, dass Kiew doch Kompromisse suchen muss. Um 30 Prozent ist die Wirtschaft der Ukraine bereits abgestürzt, 40 Prozent der Haushalte hatten letzte Nacht dort keinen Strom. Ein Fehlschuss im Rahmen von Russlands Attacken, der Nato-Gebiet trifft, ist neben den Drohgesten aus dieser Richtung durchaus möglich.

Gezielte Desinformationen sind auch im Fall Przewodow nicht auszuschließen. Selenskyj will von der These, dass es sich um eine russische Rakete handelte, weiterhin nicht ganz abrücken. Das kann propagandistischen Zwecken dienen. Die Nato geht bislang davon aus, dass es sich um eine von der Ukraine abgefeuerte Flugabwehrrakete sowjetischer Bauart handelte, die ihr Ziel verfehlte und deren Selbstzerstörungsmechanismus versagte. Polen tut sich dennoch schwer damit, ukrainische Ermittler an den Untersuchungen zu beteiligen.

Wichtiger ist die politische Reaktion aus Washington und Brüssel. Hier hat man eine mögliche Eskalationskette entschieden und schnell unterbrochen. Moskau war daran ebenfalls interessiert – anders als Schreiberlinge von Bild & Co., die uns schon an der Ostfront sahen. Solange dieser Krieg fortgesetzt wird, bringt er nicht nur dem ukrainischen und russischen Volk immer neues Leid, sondern behält auch das Gefahrenpotential, sich zu einem großen Konflikt mit verheerenden Folgen für die Welt zu entwickeln.