Anmerkungen zur W-Frage

Nach der Präsentation des Parteivorläufers BSW durch Sahra Wagenknecht wird in den angeblich sozialen Medien wie üblich gezankt, nicht selten wird dabei unter die Gürtellinie geschlagen.

Der Politikerin und ihren ebenfalls aus der Linken ausgetretenen Mitstreitern werden auch von Repräsentanten dieser Partei u. a. unmoralisches Verhalten, Mandatsklau, die Demontage der Linksfraktion im Bundestag und die Verweigerung der Weiterzahlung von Abgaben vorgeworfen, zudem werden ihnen diverse Etiketten angehängt, die sie diskreditieren sollen und politisch in die andere Ecke stellen.

Die Angriffe innerhalb des linken Spektrums folgen einem Schema, das der Literaturwissenschaftler Dietrich Schwanitz mit Blick auf die Presse einmal wie folgt beschrieben hat: »Dabei sind linke Blätter dogmatischer und unliberaler als rechte. Das liegt daran, daß Linke sich viel stärker über Meinungen, Ideologien und Programme definieren als Konservative. (…) Die korrekte Linie wird über Moralisierung gesichert. Deswegen neigen Linke eher zu Meinungsterror und Ketzerverfolgungen.« (Bildung. Alles, was man wissen muss. Frankfurt am Main, 1999)

Die Gründung des BSW sollte man nüchtern als das betrachten, was sie ist: Eine Spaltung der Partei Die Linke, weil sich ein Teil ihrer Mitglieder und Funktionäre inhaltlich, personell, kulturell und milieubezogen dort nicht mehr zuhause fühlt. Die Scheidung bedeutet den Auszug des Wagenknecht-Lagers aus dem gemeinsamen Haus, wobei, abgesehen von einigen Mandaten, die bisher gemeinsamen Güter und der Apparat bei der alten Partei verbleiben.

Der Schritt zur Parteineugründung ist auch eine verspätete Folge des nie geglückten Aufbaus eines starken Flügels, der die Linke als Adresse für Protest und fundamentale Opposition lebendig hält. Mit dem Wandel zur Funktionärspartei ging diese Rolle mehr und mehr verloren. Hinzu kommt, dass die Generation, die die Linke von ihrer Basis her vor allem im Osten im Alltag der Menschen als nützlich erlebbar machte, dahinschwindet.

Der Pakt zwischen – alles vereinfacht gesagt – Reformisten und Populisten hielt die Linke noch eine Weile über Wasser, war den politisch Korrekten aber unerträglich und wurde entsprechend bekämpft. Ohne die Nutzung solcher Synergien und ohne fähige Führung schaffte es die Linke zuletzt nur noch mit Ach und Krach in den Bundestag.

Der Bedeutungsverlust und Abstieg der Partei vollzieht sich schon länger. Mit den großen Krisen und polarisierenden Streitthemen der jüngsten Zeit (Corona, Ukraine, Nahost) hat er allerdings stark an Fahrt gewonnen. Bereits vor Wagenknecht & Co hat eine Reihe einmal oder noch vor kurzem wichtiger Köpfe (z. B. Christa Luft, Fabio De Masi) die Linke scharf kritisiert und enttäuscht verlassen.

Den Umfragen nach würde eine Wagenknecht-Partei selbst die hohe Hürde, um in das deutsche Parlament einzuziehen, vom Start weg spielend überspringen. Vor allem deshalb, weil sie Protestwähler aus allen Richtungen einsammeln und viele, die aus Politikverdruss zuletzt nicht gewählt haben, mobilisieren könnte. Das bedeutet zunächst einmal, dass die von Wagenknecht behauptete Repräsentationslücke tatsächlich groß ist.

Nicht repräsentativ ist meine Beobachtung, dass sich in meiner Einfache-Leute-Eckkneipe schon lange niemand mehr für die Linke interessiert, Wagenknecht hingegen Gesprächsthema ist.

Eine andere Frage ist, wohin sich die neue Partei programmatisch entwickelt. Der Europaabgeordnete und auch Linke-Co-Vorsitzende Martin Schirdewan hat die Erwartung geäußert und sieht Zeichen dafür, dass sich die neue Partei »deutlich rechts« positionieren wird. Eine, freundlich gesagt, gewagte These, die aber dem Stil entspricht, in dem die Auseinandersetzung schon eine Weile geführt wurde.

Es wäre ein wirklich erschreckendes Ausmaß an rechter Unterwanderung: Die neun Menschen, darunter die bisherige Co-Fraktionsvorsitzende Amira Mohamed Ali, die mit Wagenknecht die Linke-Fraktion in Richtung BSW verlassen, haben schließlich bisher an wichtigen Stellen und mit dem Auftrag ihrer Mitglieder Schirdewans Partei in der Bundespolitik vertreten.

Nun ist mir durchaus klar, dass deren Profil ideologische Unschärfen aufweist und dass sie zu besseren Zeiten auch ein echter Anziehungspunkt für Karrieristen war. Einige mehr davon werden wir sicher bald (ebenfalls unter Mitnahme des Mandats) in der Reihen von SPD und Grünen begrüßen dürfen.

Wenig überzeugend ist, was das Wagenknecht-Bündnis als Eckpunkte seines Programms vorgestellt hat: kein zündender Appell an Herzen und Köpfe, keine Prägnanz, stattdessen ein biederer Catch-all-Wahlaufruf. Vernunft als Maßstab von Politik klingt in diesen Zeiten irrationaler Raserei nicht verkehrt, und natürlich werden echte Linksliberale und sozialdemokratische Sozialdemokraten schmerzlich vermisst. Die in der Theorie richtige Trennung der Themen Zuwanderung und politisches Asyl gestaltet sich in der Praxis schwierig und führt bei Offene-Grenzen-Idealisten zu Empörung und für Beifall von denen, die mit Sorgen nur ihre Ressentiments gegen Fremde tarnen.

Neben inhaltlichen Fragezeichen und Leerstellen bleibt bislang auch offen, wie die neue Organisation nach der Gründungsphase verfasst sein soll. Von der Frage ihrer innerparteilichen Demokratie hängt letztlich ab, ob sie eine glaubwürdige Alternative zu anderen Parteien sein kann. Absehbar ist wohl, dass die neue Partei auch für Traditionslinke Enttäuschungen bereithält, die sich jetzt aus Frust über die etablierte Partei Wagenknecht anschließen.

Noch ein Wort zum »Diebstahl« (Gregor Gysi) der zehn Mandate und dem Antrag der BSW-Leute, trotzdem noch ein paar Wochen in der Fraktion zu verbleiben. Ein solcher Protest gehört zu den parlamentarischen Gepflogenheiten. In der Regel geht es dabei um einzelne Abgeordnete, die sich auf der Liste der Partei A wählen lassen, und dann auf die Bank der Partei B wechseln. Nachträglich verändert das die Kräfteverhältnisse, abweichend vom Wahlausgang.

Hier allerdings teilt sich de facto eine Fraktion in zwei Gruppen. Zudem sind Abgeordnete auch in Person gewählt worden und nach dem Grundgesetz einzig ihrem Gewissen, nicht ihrer Partei- oder Fraktionsspitze Rechenschaft pflichtig. In der Praxis sorgen gewisse Mechanismen dafür, dass sie normalerweise dennoch spuren ( Vgl. ebenda, S. 77f.: Das Prinzip des Feudalismus. »Will man verstehen, wie das politisch funktioniert, muss man sich heutige Parteien ansehen.«)

Der nicht zu beneidende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Dietmar Bartsch, hat explizit auf die Verantwortung für die Interessen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktion hingewiesen. Den ja längst erwarteten Schritt der zehn Abgeordneten nennt er in gemäßigten Worten »unverantwortlich und inakzeptabel«. Man wolle in Ruhe entscheiden. Das ist kein Nein und spricht für Bereitschaft auf beiden Seiten, diesen traurigen Prozess nicht konfrontativ zu Ende zu bringen. Vorausgesetzt, es gibt keine weitere Strömung dort, die den Eklat sucht.

Für die Linken aller Schattierungen in Deutschland gibt es weder Grund zum Jubel noch für Häme. Dafür ist das Lager insgesamt zu schwach und nun auch noch weiter fragmentiert, während konservative, neoliberale und rechtsextreme Parteien das Feld immer stärker beherrschen. Ob die von Wagenknecht initiierte Partei daran etwas ändern kann und wo genau sie sich im politischen Spektrum einordnet, muss sich erst zeigen. Fraglich ist auch, ob Die Linke, wie Wagenknecht-Kritiker in ihren Reihen meinen, nun ohne deren Sand im Getriebe besser läuft – oder ob die Fans einer »disruptiven Neugründung« nur den eigenen Untergang beklatschen.