Absetzbewegung vom Messias

Wegen seines gemeingefährlichen Umgangs mit der Corona-Pandemie und Amtsmissbrauchs zur Vertuschung krimineller Machenschaften seines Familienclans gerät Brasiliens ultrarechter Staatschef Jair Messias Bolsonaro immer weiter unter Druck. Die Alliierten vom Parlamentsputsch 2016 gegen Dilma Rousseff von der linken Arbeiterpartei (PT) sind längst untereinander tief zerstritten. Bolsonaro, mittlerweile parteilos, hat sich nicht nur mit den sogenannten Sozialliberalen (PSL) überworfen, auf deren Ticket er 2018 kandidierte. Deren Fraktion im Unterhaus hat sich gespalten, nachdem sich die Hälfte der Abgeordneten nicht dem Diktat des Bolsonaro-Familienclans unterwerfen wollte. Das Regierungslager besitzt im zersplitterten Parlament keine eigene Mehrheit, sondern muss mit dem Block des „großen Zentrums“ und den verschiedenen Interessengruppen dort von Fall zu Fall schachern. Die Coronakrise hat diese Gräben weiter vertieft. Der Gouverneur des Bundesstaates São Paulo von der großbürgerlichen PSDB, João Doria – Anwärter auf eine Kandidatur bei den kommenden Präsidentschaftswahlen –, profilierte sich mit einer Eindämmungspolitik.

Die zynische Ignoranz, mit der Brasiliens Staatschef die Ausbreitung von Covid-19 im Land als Petitesse abtut, und das von ihm in der Exekutive gestiftete Chaos haben Bolsonaro Anhänger gekostet und seine Position empfindlich geschwächt. Die Seuche bedroht besonders die etwa elf Millionen Bewohner der Favelas, die unter oft beengten Wohnverhältnissen und prekären sanitären Bedingungen leben müssen. Gar nicht zu reden von Hunderttausenden in den völlig überfüllten Gefängnissen. Für die vor allem im Amazonasgebiet lebenden indigenen Völker ist das Virus eine weitere existentielle Gefahr. Die Abholzung der Regenwälder dort hat in Bolsonaros Brasilien rasant zugenommen. Mit dem Zerstörungswerk von Holzfällern, Viehzüchtern, Minenbetreibern und Goldsuchern dringen auch Krankheiten in die indigenen Gebiete vor.

Auf dem Tisch von Parlamentspräsident Rodrigo Maia von den konservativen Demokraten (DEM) liegen seit Monaten mehrere Anträge zur Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen den Faschisten. Noch Mitte Mai hatte es Maia mit einer Eröffnung keineswegs eilig – ein taktisches Abwarten, kein Freundschaftsdienst. Das Verhältnis der beiden Politiker ist angespannt. Bolsonaro wirft dem Chef des Unterhauses vor, seine Regierung, deren Projekte im Parlament immer wieder hängen bleiben, ökonomisch destabilisieren zu wollen. Eines der vielen Ablenkungsmanöver des ideologischen Geisterfahrers vom eigenen Totalversagen.

Maia kann warten, denn er weiß, dass die Zeit für ihn arbeitet, der Kopf des Mannes an der Spitze des Staates mächtig wackelt. Schließlich war am 24. April Justizminister Sergio Moro, ein wichtiges Aushängeschild der Bolsonaro-Regierung, als Reaktion auf die Entlassung des Chefs der Bundespolizei Mauricio Valeixo zurückgetreten und hatte den Fehdehandschuh geworfen. Moro sagte gegen seinen bisherigen Chef aus und das Oberste Gericht leitete umgehend ein Ermittlungsverfahren gegen den Präsidenten ein. Moro wirft Bolsonaro vor, sich in die Polizeiarbeit eingemischt zu haben, um an interne Informationen zu gelangen und um politische Verbündete und seine Familie vor dem Arm der Justiz zu schützen. Auf den Straßen gingen jetzt Bolsonaristas und Moro-Anhänger aufeinander los.

Die Schlinge um Bolsonaro und seinen Clan zieht sich Stück für Stück zu: Sohn Carlos, Stadtrat von Rio de Janeiro, steht im Mittelpunkt des Fake-News-Skandals. Er dirigiert die Hass-Kampagnen in den sozialen Netzwerken gegen alle, die sich Bolsonaro in den Weg stellen. Diese Methoden trugen bereits zum vorher von den meisten für unmöglich gehaltenen Wahlerfolg von Jair Bolsonaro 2018 wesentlich bei. Jairs Sprössling Flávio ist erst recht ein schlimmer Finger. Als Abgeordneter des Parlaments von Rio de Janeiro unterschlug der heutige Senator zum einen Teile der Gehälter seiner Angestellten. Vor allem aber war er in lukrative Immobiliendeals und in Geldwäsche für Rios paramilitärische Milizen verstrickt, die auch am Waffen- und Drogenhandel verdienen. Die mit den Bolsonaros verbandelte Verbrecherorganisation war in den Mord an Rios Stadträtin Marielle Franco von der linken Partei PSOL und ihrem Fahrer Anderson Gomes im März 2018 involviert.

Flávios damalige „rechte Hand“ Fabrício Queiroz ist ein alter Freund des Präsidenten und war auch eng mit Adriano da Nóbrega, dem Chef einer Gang von Auftragsmördern. Als Zeuge fällt Nóbrega leider aus: Im vergangenen Februar wurde „Hauptmann Adriano“ bei seiner Festnahme erschossen. Der nun von Bolsonaro neu ernannte Polizeichef Rolando de Souza tauschte in einer seiner ersten Amtshandlungen den Direktor der Bundespolizei in Rio de Janeiro aus.

Moro will sich nun reinwaschen. Dabei hat den früheren Parlamentskasper Bolsonaro erst zu dem gemacht, der er heute ist. Der damalige Richter manipulierte gemeinsam mit den Anklägern der Antikorruptionsbehörde Lava Jato die Prozesse gegen den früheren Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (2003– 2010) von der Arbeiterpartei (PT). US-Stellen schauten Moro dabei über die Schulter. Lula landete für mehr als 19 Monate im Gefängnis und durfte als Favorit nicht zu den Präsidentschaftswahlen 2018 antreten. Erst im November vergangenen Jahres kam Lula frei. Das Ministeramt für Moro war eine Belohnung für dessen Verrat am eigenen Land und an der Demokratie. Eine Berufung an den Obersten Gerichtshof stand eigentlich auch noch auf Moros Wunschzettel. Aber es könnte nun auch auf etwas Größeres hinauslaufen.

Wohin sich die Waage der Justitia neigt, hängt von der politischen Konjunktur, dem Verlauf der wirtschaftlichen und sozialen Krise und den Machtkämpfen der Eliten im Hintergrund ab. Sollte gegen Bolsonaro tatsächlich Anklage erhoben werden und der von ihm eingesetzte Generalstaatsanwalt Augusto Aras – ein politischer Opportunist – mitspielen, würde sich das vom Impeachment gegen Rousseff bekannte Prozedere wiederholen. Nur wären diesmal echte Verbrechen zu ahnden. Zwei Drittel der Abgeordneten des Unterhauses müssten der Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens zustimmen. In diesem Fall würde Bolsonaro für 180 Tage suspendiert werden und sein Vize Hamilton Mourão bis zum Abschluss des Prozesses übernehmen. Der General – ein Reaktionär mit Umgangsformen – und etliche weitere in die Exekutive aufgerückte Militärs könnten damit sicher leben.

Sich über ihre Taktik zunächst nicht einig, stellen nun auch Brasiliens Linkskräfte geschlossen und deutlich die Forderung, Bolsonaro aus dem Amt zu entfernen. Lula da Silva warf seinem, Maßnahmen gegen eine Ausbreitung des neuartigen Coronavirus offen sabotierenden Nachfolger vor, einen „Genozid“ zu verursachen. Wegen Angriffen „auf die Demokratie, demokratische Institutionen und das brasilianische Volk“, so Lula, müsse Bolsonaro des Amtes enthoben werden.

Von Peter Steiniger. Veröffentlicht in RotFuchs, Nr. 296, Juni 2020, Seite 9