Aufstand des Prekariats

Die Facebook-Revolution hat auf Europa übergegriffen. Ihr Brückenkopf findet sich in dem kleinen iberischen Land an seiner Westküste. Für die etablierten politischen Kräfte Portugals waren Spontaneität und Ausmaß der Proteste völlig überraschend. Den Zündfunken für ihre Formierung schlug ein neuer Song der Band Deolinda, der das Lebensgefühl der jungen Generation ausdrückt und sich rasend schnell über das Internet verbreitete. „Was für eine bescheuerte Welt. Wo man, um Sklave zu sein, studiert haben muß“, singt die Frontfrau der Gruppe, Ana Bacalhau.

Mit der Hymne der Frustration verbreitete sich auch der Aufruf einer Handvoll von Aktivisten, welche die „Generation in der Klemme“ (Geração à rasca) zum Protest auffordert. Ihr Manifest spricht für das Heer der Arbeitslosen, der 500-Euro-Mindestlohn-Jobber und der anderen zu lausigen Konditionen Beschäftigten, für die Scheinselbständigen, Zeitarbeiter, Praktikanten, studentische Arbeiter – für die „Mütter, Väter und Kinder Portugals“. Am 12. März fluteten Hunderttausende – Menschen aller Generationen schlossen sich an – die Straßen der großen Städte, um zu demonstrieren, daß sie die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen und längst zur Norm gewordene prekäre Arbeit nicht länger hinnehmen wollen.

Als Niedriglohnland steht Portugal besonders unter dem Druck der Konkurrenz osteuropäischer EU-Länder. Eine Deregulierung des Arbeitsmarktes und die Privatisierung öffentlicher Unternehmen waren die Antwort der Regierung auf seine strukturellen Defizite. Nicht zuletzt eine aufgeweichte Arbeitsgesetzgebung hat Portugal auf einen EU-Spitzenplatz bei befristeten Arbeitsverhältnissen befördert. Mehr als jeder fünfte Job basiert hier auf Zeitarbeit. Die offizielle Arbeitslosenrate beläuft sich auf über zehn Prozent. Vor allem junge Leute, obwohl meist besser ausgebildet als die Generationen vor ihnen, finden kaum noch eine reguläre Anstellung. Meist werden sie mit Billigjobs abgespeist oder als unbezahlte Dauerpraktikanten mißbraucht. „Com a precaridade não há liberdade“ – „Es gibt keine Freiheit mit Prekarität“ – ist eine der Losungen des Protestes.

Mit der Finanzmarktkrise wurde aus der wirtschaftlichen Stagnation eine Talfahrt. Das Bruttoinlandsprodukt sackte ab, die Handelsbilanz verschlechterte sich, und die Staatsschulden schnellten nach oben. Im Jahr 2010 machte das Minus im Haushalt 9,1 Prozent aus. Das Land geriet unter den Druck der Finanzmarktjongleure, die Abwertung seiner Kreditwürdigkeit durch die mächtigen Ratingagenturen verteuerte die Geldaufnahme. Die Minderheitsregierung des Sozialisten José Sócrates setzte dem, in einer informellen großen Koalition mit den oppositionellen konservativen Sozialdemokraten von der PSD, einen harten Sparkurs entgegen. Gehälter im öffentlichen Dienst, Renten, Sozialleistungen wurden eingefroren oder gekürzt, Investitionen gestrichen oder vertagt, Einkommens- und Mehrwertsteuer angehoben.

Nachdem im Januar der rechtsliberale Ökonom Aníbal Cavaco Silva klar als Staatspräsident im Amt bestätigt worden war und die Sozialisten mit ihrem Kurs Minusrekorde bei Wählerumfragen einsammelten, ließ die PSD das Kabinett Sócrates über die vierte Stufe seines Wachstumsbeschleunigungsprogramms stolpern. Auf die Abstimmungsniederlage im portugiesischen Parlament, der Assembleia da República, folgte der Rücktritt des PS-Premiers und die Ansetzung von Neuwahlen für den 5. Juni. Um einen Staatsbankrott abzuwenden, ist Portugal auf Hilfen durch den Euro-Rettungsschirm angewiesen. Die benötigten 80 Milliarden Euro werden mit einem Verlust an nationaler politischer Souveränität erkauft.

Die linke Opposition aus Kommunisten (PCP) und Linksblock (BE) fordert eine radikale Abkehr vom neoliberalen Politikpfad. Portugal dürfe nicht von Berlin und Brüssel aus regiert werden. Die klassenkämpferische, mit mehr als 700000 Mitgliedern größte Gewerkschaftszentrale, CGTP-Intersindical, hat die Verteidigung sozialer Rechte in den Mittelpunkt ihrer Aufrufe zum 1. Mai gestellt. Damit wird an die großen Massenaktionen der letzten Monate angeknüpft. Ein neuer Generalstreik – der letzte legte am 24. November des Vorjahres des öffentliche Leben lahm – kann bald wieder auf der Tagesordnung stehen. Die CGTP hat angekündigt, „alles zu tun, um die Rezepte von IWF und EU abzuwehren“. Wer immer in Portugal künftig regiert, wird mit dem wachsenden Druck der Straße zu rechnen haben.

Von Peter Steiniger. Quelle Tageszeitung junge Welt, Beilage „erster mai“ https://www.jungewelt.de/beilage/art/2579