Unbeugsam

Der große brasilianische Literat Jorge Amado sprach von einem „kostbaren Leben, kostbar für Portugal und für die Welt“, als er sich im Rahmen einer internationalen Kampagne 1954 für die Freilassung des eingekerkerten portugiesischen Kommunisten Álvaro Cunhal einsetzte. Er beschrieb einen Mann, dessen „Leidenschaft und Aufgabe“ die „Befreiung des portugiesischen Volks von der salazaristischen Erniedrigung“ sei.

Eine Mission, die sich mit der durch den Militärcoup vom 25. April 1974 ausgelösten Nelkenrevolution erfüllte. Cunhal war einer der wichtigsten Wegbereiter, Strategen und Akteure des radikalen Übergangs von der klerikal-faschistischen Diktatur, die sich bereits nach dem Fall der Ersten Republik 1926 etabliert hatte, zu Demokratie und Freiheit. Die Portugiesische Kommunistische Partei (PCP), der er seit 1931 angehörte und seit 1961 als Generalsekretär vorstand, hatte mit ihrem opferreichen illegalen Kampf entscheidend zum Umsturz beigetragen. Zu seiner Beisetzung am 15. Juni 2005, zwei Tage nach seinem Tod im Alter von 92 Jahren, ordnete die portugiesische Regierung Staatstrauer an. Hunderttausende säumten in Lissabon die Straßen beim letzten Geleit für eine der herausragendsten, breit respektierten Persönlichkeiten in der jüngeren Geschichte des Landes.

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Das Licht der Welt erblickt Álvaro Barreirinhas Cunhal am 10. November 1913 in Coimbra. Bereits mit 17 Jahren findet er den Weg zur Kommunistischen Partei. Er absolviert ein Studium an der Juristischen Fakultät der Lissaboner Universität und nimmt an antifaschistischen Aktionen der Studenten teil. 1935 wird Cunhal an die Spitze des kommunistischen Jugendverbandes gewählt und geht in den politischen Untergrund. Faktisch führt er – als jüngstes Mitglied des Zentralkomitees – bereits die Partei, nachdem ihr Generalsekretär Bento Gonçalves 1936 in das Konzentrationslager Tarrafal deportiert ist, wo er 1942 verstirbt. Zwei Mal, 1937 und 1940, landet Cunhal im Gefängnis, bis ihn das Regime nach einer Verhaftung 1949 dauerhaft einkerkert. Elf Jahre verbringt er hinter Gittern, davon acht Jahre in völliger Isolation, bis ihm und weiteren seiner Genossen 1960 die spektakuläre Flucht aus dem berüchtigten Festungskerker Peniche gelingt.

Über Paris und Prag führt ihn sein Exil nach Moskau. In der Ende 1964 publizierten Schrift Rumo à Vitória (Kurs auf den Sieg) entwickelt er die politische Strategie zum Sturz des alten Regimes. Im Kampf der Befreiungsbewegungen von Angola und Mosambik gegen die portugiesische Kolonialherrschaft sieht er einen entscheidenden Beitrag zum Kampf gegen die Diktatur im eigenen Land. Die Unabhängigkeit dieser afrikanischen Länder sei auch „Bedingung für das Erringen einer wirklichen Unabhängigkeit Portugals“. Seine Partei orientiert verstärkt auf die Arbeit in den Streitkräften, die blutige Kolonialkriege führen, welche Portugal selbst ökonomisch auszehren.

Am 30. April 1974, fünf Tage nach dem Aufstand der Bewegung der Streitkräfte (MFA), kehrte Álvaro Cunhal nach Lissabon zurück, um auf Tiefe und Richtung des revolutionären Prozesses einzuwirken. Fünf provisorischen Regierungen gehörte er als Minister ohne Geschäftsbereich an. 1974 und 1975 – drei Kabinette wurden von seinem engen politischen Weggefährten, dem General Vasco Gonçalves, geleitet – führte die Dynamik der Umwälzungen unter sozialistischen Vorzeichen zu Nationalisierungen von Großkapital und Enteignungen der Landifundisten zugunsten der Landarbeiter.

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Als Patriot und großer politischer Stratege und Taktiker erwies sich Cunhal in der Stunde der Verhandlungen und des Rückzugs. Die Gefahr eines Bürgerkriegs wurde abgewendet, weitgehende politische und bürgerliche Rechte sowie soziale Errungenschaften der Aprilrevolution wurden in der Verfassung vom 2. Mai 1976 festgeschrieben. Die Verhältnisse in dem konservativ geprägten Land und das internationale Kräftespiel im kalten Krieg ließen einen Ausbruch Portugals als NATO- Gründungsstaat aus dem westlichen Block nicht zu. Die Massaker an den Kommunisten 1965 in Indonesien und der US-geförderte Pinochet-Putsch 1973 in Chile waren noch in frischer Erinnerung. Wo die Grenzen nationaler Selbstbestimmung liegen, hatte die Sowjetunion 1968 in ihrem Herrschaftsbereich mit dem Einmarsch in die Tschechoslowakei zur Beendigung des „Prager Frühlings“ ebenfalls deutlich gemacht.

Die PCP konnte sich trotz Rückschlägen als Partei mit Massenbasis, besonders unter der Arbeiterschaft, im neuen demo-kratischen System dauerhaft etablieren. Großen Einfluß besitzt sie auf die mitgliederstärkste Gewerkschaftszentrale CGTP Intersindical. Im Nationalparlament, der Versammlung der Republik, ist sie derzeit mit 14 Abgeordneten vertreten und bildet zusammen mit den zwei Vertretern der Grünen eine gemeinsame Fraktion. Beim Kampf gegen das Troika-Diktat und die Abwälzung der Krisenlasten auf die kleinen Leute steht sie heute in vorderster Reihe.

1992 hatte sich Cunhal vom Amt des Generalsekretärs zurückgezogen. In seinen späten Jahren widmete er sich wieder verstärkt seinem künstlerischen und literarischen Schaffen. Berühmt sind seine „Desenhos da Prisão“ (Gefängniszeichnungen) aus der Zeit der Isolationshaft, die im Dezember 1975 erstmals publiziert und einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurden. Unter dem Pseudonym Manuel Tiago verfasste er mehrere Romane. In Büchern und Essays setzte sich Cunhal mit der Rolle von Kunst und Künstler in der Gesellschaft auseinander. Das geistige Vermächtnis von Álvaro Cunhal prägt die PCP bis auf den heutigen Tag. Ohne den Mann, der jeden Personenkult verabscheute und unterband, zu einem Säulenheiligen zu machen. Zum Hundertsten sind ihm zahlreiche Publikationen, Symposien und andere Veranstaltungen gewidmet, die nicht nur das Interesse seiner Parteigänger finden dürften. Cunhal war ein Kind seiner Zeit, respektiert auch von politischen Widersachern, von groben Vereinfachern im Nachhinein so gern wie fälschlich als Stalinist geschmäht. Das Zeugnis seines standhaften Lebens überragt dies. Sein Name steht stolz im Buch der Geschichte, bleibt untrennbar mit dem Kampf für Freiheit, soziale Gleichheit und Demokratie verbunden.

Von Peter Steiniger. Erschienen in: Portugal-Report, Journal der Deutsch-Portugiesischen Gesellschaft e.V., 1. Ausgabe 2013, S.12-13

Informationen zum Centenário: https://acunhal.blogspot.de