Subversive Töne

1959 siegt in Kuba die Revolution der jungen Bärtigen und ein ganzer Kontinent gerät in Bewegung. Studenten rebellieren gegen erstarrte Verhältnisse, die politischen Fronten werden schärfer, Gegenkultur blüht auf, in der katholischen Kirche breitet sich die Theologie der Befreiung aus, neue Guerilleros greifen zu den Waffen. Fünf Jahre nach Fidel Castros Einzug in Havanna lässt „Uncle Sam“ erstmals die Notbremse ziehen. Ein „zweites Kuba“ soll ausfallen. Die brasilianische Diktatur wird das Pilotprojekt für Militärherrschaft in fast ganz Lateinamerika zur Unterbindung weiterer Systemveränderungen. Der Putsch am Zuckerhut leitet die Jahrzehnte der „bleiernen Zeit“ ein.

Die von der CIA geförderte illegale Amtsenthebung von João Goulart, genannt Jango, Präsident des fünftgrößten Landes der Welt, am 31. März 1964 vereitelt radikale Reformen, welche Macht und Privilegien der oligarchischen Oberschicht Brasiliens bedrohen. Sie betreffen die ungerechte Verteilung des Agrarlandes, das Arbeitsrecht und den Schutz von Mietern. Im Bündnis mit Arbeiterorganisationen und Studentenbewegungen will Goulart auch die Privilegien ausländischer Konzerne beschneiden.

In einer solchen Betonung nationaler Interessen sieht Washingtons Botschafter in Brasília, Lincoln Gordon, eine Bedrohung von solchen der US-Wirtschaft. Die CIA startet verdeckte Programme, um in der Öffentlichkeit Stimmung gegen „Jango“ zu schüren, und streckt ihre Fühler zu führenden Militärs der brasilianischen Streitkräfte aus. Besonders in den wirtschaftlichen Kernzentren Minas Gerais und São Paulo macht die rechte Opposition mobil. Hier werden am 19. März 1964, der Putsch liegt bereits in der Luft, mit antikommunistischer Angstmache Hunderttausende zu einem „Marsch der Familie mit Gott für die Freiheit!“ in der größten Stadt Lateinamerikas mobilisiert. Eine Losung, die erzrechte Brasilianer auch heute wieder aufgreifen. Als innerer Feind waren und sind linke Parteien, Gewerkschaften und soziale Bewegungen – und nicht zuletzt auch progressive Künstler – ausgemacht.

Der soziale Reformer Goulart entstammt selbst jenen Eliten, deren Todfeindschaft er sich nun zuzieht. „Jango“ gehört einer reichen Latifundistenfamilie aus dem Süden Brasiliens an. Dem Präsidenten Getúlio Vargas dient er in den 1950er Jahren als Arbeitsminister. 1961 wird er zum Vizepräsidenten des exzentrischen Linkspopulisten Jânio Quadros gewählt und übernimmt nach dessen Rücktritt ein halbes Jahr später verfassungsmäßig das Amt des Staatspräsidenten – gegen den Widerstand rechter Kreise. Er suchte gute Beziehungen zu Kuba und legalisiert die Kommunistische Partei. Auch das trägt dazu bei, ihn als angeblichen Kommunisten zu brandmarken.

Eine Revolte von Unteroffizieren und Seeleuten, die „Jango“ gegen die Militärhierarchie in Schutz nimmt, liefert den Anlaß zum Putsch. Als Kanonenboot-Drohkulisse haben die Vereinigten Staaten einen von einem Flugzeugträger angeführten Flottenverband mit Kurs auf die brasilianische Hafenstadt Santos entsandt. Als sich Truppen zu seinem Sturz in Marsch setzen, setzt sich Goulart auf seine Güter im benachbarten Uruguay ab. Von dort emigriert er weiter nach Argentinien, wo er 1976 in der Stadt Mercedes im Alter von nur 58 Jahren unter nicht zweifelsfrei geklärten Umständen an einem Herzanfall stirbt.

Am 15. April 1964 lässt sich General Castello Branco vom Nationalkongress zum Präsidenten bestimmen, die im Jahr darauf anstehenden Wahlen werden abgesagt. Auf der Agenda stehen nun der „Schutz der Nation“ und die „Wiederherstellung der Ordnung“. Im Staat wird „gesäubert“, Zehntausende werden interniert. Die direkte Präsidentenwahl wird abgeschafft, ein gelenktes Zweiparteiensystem aus ARENA (Aliança Renovadora Nacional) und MDB (Movimento Democrático Brasileiro) als demokratisches Denkmäntelchen installiert. Eine Verfassungsänderung zementiert 1967 die Macht des Militärs. Willkür wird zur Norm: Das Recht Verhafteter auf Prüfung der Haftgründe durch einen Richter ist aufgehoben, die Geheimpolizei arbeitet schwarze Listen ab, in São Paulo wütet das berüchtigte Folterzentrum DOI-CODI.

Ein besonders wachsames Auge hat die Obrigkeit auf die Künstler. Man wünscht seichte Unterhaltung zum bösen Spiel. Mit dem Tropikalismus macht sich seit dem Ende der 1960er Jahr in Film und Musik eine Bewegung wieder bemerkbar, die Elemente der Volkskultur mit aktuellen internationalen Einflüssen zusammenführt. Musikalisch stehen hierfür Artisten, die zu den bekanntesten Namen Brasiliens zählen, wie Caetano Veloso und Gilberto Gil. Mit einem subversiven politischen Anspruch mischen sie ihren Sound aus Bossa Nova, Folk und Rockmusik.

Ihre regimekritischen, kreativ-metaphorischen Texte und versteckten Botschaften überfordern die Zensoren häufig genug und zeigen die Wirklichkeit des brasilianischen Alltags schonungslos auf. Die verdummenden Massenmedien nehmen sie ebenso aufs Korn wie die konsumorientierte Fortschrittspropaganda im „Land der Zukunft“. Nach der Übernahme der Macht durch das Militär wird etlichen Musikern und Komponisten „nahe gelegt“, Brasilien zu verlassen. Auch Caetano Veloso, Gilberto Gil und Chico Buarque ergeht es so. Nach Inhaftierungen und Drangsalierungen wechseln sie auf Europas Bühnen.

Erst 1985 enden die „bleiernen Jahre“ (anos de chumbo), erhält Brasilien wieder einen gewählten Präsidenten. Für einen musikalischen Schlußakkord zur Ära der Diktatur sorgt die populäre Rock und Post-Punk-Band Legião Urbana um Sänger Renato Russo. In Liedern wie „Geração Coca Cola“ oder „Que País é esse?“ (Was für ein Land ist dieses?) rechnen sie mit dem Erbe des autoritären Regimes und seinen weiter korrupten Eliten ab.

Das Vergangene vergeht nicht. Denn sich selbst amnestieren die Militärs während der „abertura“ (Öffnung) gleich mit. Die Verantwortlichen für Terror, Folter und Mord bleiben bis heute ungestraft. Im Korpsgeist des Militärs sind die früheren Widerstandskämpfer weiter Terroristen. Erst 2011 wird eine Brasilianische Wahrheitskommission zur Untersuchung der Vorkommnisse während der Militärdiktatur gebildet. João Goulart wird im November 2008 in einem festlichen Akt offiziell politisch rehabilitiert als ein „großer Führer der Nation“, der „wie nur wenige das Ideal eines gerechteren Brasiliens vertreten habe“. Die heutige Staatspräsidentin Dilma Rousseff ist selbst ein ehemaliges Folteropfer. Am 6. Dezember 2013 kommt „Jango“ nach Hause: für sein spätes Staatsbegräbnis.

Von Peter Steiniger. Erschienen in: MELODIE UND RHYTHMUS, M&R Juli/August 2014, S. 26-27, Link