Die Kraft der Schwachen

In der Nacht zum 2. September hielt die Realität Einzug in Assunção. Die Aktion war präzise geplant, vorbereitet seit Monaten. Sie kamen mit Bussen. Darin die Vorhut jener, die in diesem Land von Leuten mit viel oder etwas Geld nur Vagabunden oder Banditen genannt werden.

Symbolkräftig: Die Besetzung in São Bernardo steht für die soziale Krise und die Gegensätze zwischen Reich und Arm im größten Land Südamerikas

Die Aktivisten des MTST, der „Bewegung der obdachlosen Arbeiter“, besetzten die Brachfläche, so groß wie ein Dutzend Fußballfelder, direkt neben Apartmenthäusern der gehobenen Mittelschicht. Die, die da kamen, waren Männer und Frauen mit viel Erfahrung in solchen Dingen. Mit dabei Guilherme Boulos, das bekannteste Gesicht des MTST. Sie pflanzten ihr Banner auf, mit Holzstangen und Planen errichteten sie erste Baracken. Eine der größten Besetzungsaktionen nahm hier in São Bernardo do Campo im Großraum São Paulo ihren Anfang. „Povo sem Medo“ (Volk ohne Angst) nennt sie sich.

Dann begann der Aufbau der Zeltstadt. Eingeteilt in Sektoren. Immer mehr kamen ins Camp. Heute sind es bereits etwa 20.000. Sie fliehen vor der Not, die sich verschärft, jetzt, wo in Brasília wieder das Herrenhaus kommandiert. Leute, die ihre Arbeit verloren, und dann die Wohnung. Menschen, die nichts im Bauch und es satt haben, als Dreck behandelt zu werden, weil sie arm sind. Einzeln oder als ganze Familie, mit ihren Kindern. Dass diese weiter zur Schule gehen, darauf wird hier bestanden.

Lernort: MTST führt vor Ort zahlreiche ­politische und kulturelle ­Veranstaltungen durch. Ein geplantes Konzert mit ­Caetano Veloso wurde von einem Richter ­jedoch verboten

Das schwere Los ist mit vielen Schultern leichter zu tragen. Doch unter den Planen ist es heiß und stickig. Es gibt keinen Strom und kein fließendes Wasser. Dafür Skorpione. Unwettern ist man ausgeliefert. „Niemand kommt freiwillig hierher“, sagt Boulos. Drogen und Alkohol sind verboten, nachts läuft der Selbstschutz des MTST Streife. In der schickeren Nachbarschaft wurden mehr Wächter engagiert, schließt man die Fenster, lässt die Kinder nicht mehr zum Spielen ins Freie. Man protestiert, macht Druck auf die Behörden. Hinter den Kulissen läuft ein juristisches Tauziehen zwischen MTST und dem Baukonzern, dem der Platz gehört, das durch die Instanzen geht.

Provisorium: Alle in der Zeltstadt träumen von einem richtigen Dach über dem Kopf. Der Baukonzern, dem die Fläche gehört, droht den Bewohnern mit Räumung durch die Polizei

„Povo sem Medo“ ist gelebter politischer Protest. Täglich gibt es Debatten und Aktionen. Und nun auch eine Bibliothek, die allen offensteht. Mit einem Marsch zum Palast des Gouverneurs zwang man die Regierung an den Verhandlungstisch. MTST streitet dort für Sozialprogramme und Wohngeld. Künstler und Politiker, nicht nur aus dem eigenen Land, kommen, um Solidarität zu zeigen. Natürlich war auch Lula hier, sprach zu und mit den Leuten, traf sich mit den Koordinatoren. Alle hier würden sich für den früheren Präsidenten, dem ersten, der etwas für die Armen tat, der aus ihren Reihen kommt, in Stücke reißen lassen. Von einem besseren Leben wird an diesem Ort nicht nur geträumt. Hier wird gearbeitet und gekämpft. Nur Mut, Volk ohne Angst!

Von Peter Steiniger. Fotos: Midia Ninja. Veröffentlicht in: junge Welt, 18./19.11.2017, Beilage „faulheit &arbeit“, Seite 4-5, Link