„Die Nazi-Verwaltung gestürzt“

Schreiben von Peter Alfons Steiniger aus Krummhübel im Riesengebirge an den Berliner Oberbürgermeister vom 14. August 1945

Peter Alfons Steiniger (Pseudonym Peter A. Steinhoff)
* 4.12.1904 Berlin-Wilmersdorf (Kreis Teltow), † 27.5.1980 Berlin

Schriftsteller, Jurist, Hochschullehrer und Verfassungsrechtler. Maßgeblich an der Formulierung der ersten DDR-Verfassung beteiligt.

(undatiertes Foto)

 

Briefbogen der Gemeinde Krummhübel (grün-rot)

Ort Krummhübel gross gedruckt: darunter

Dr. Peter Alfons Steiniger                        den 14. August 1945
                                                  Telf. 224 dienstl.
                                                   "    456 priv.

An den Oberbürgermeister der Stadt Berlin in Berlin

Als Mann, der seit seiner Geburt im Jahre 1904 bis zum Januar dieses Jahres in Berlin gelebt hat, als alter sozialistischer Publizist & auf Grund vielseitiger Erfahrungen in anderen Berufen halte ich mich für verpflichtet, mich bei Ihnen zu melden.
Man hat mir als Halbjuden im Jahre 1935 die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt und mich bereits 1933 aus der richterlichen Laufbahn ausgestoßen. (Ich war Prädikatsjurist, Mitarbeiter der großen Fachzeitschriften, Assistent bei Professor Hensel, Bonn, amtlicher Gutachter in Enteignungsfragen und dgl.). Im Jahre 1936 hat mir die Tschechoslowakische Regierung die tschechische Staatsangehörigkeit verliehen, zumal mein verstorbener Vater als gebürtiger Karlsbader diese Staatsangehörigkeit besaß. Ich war Schriftsteller & Journalist, vor 20 Jahren bereits politischer und literarischer Mitarbeiter sozialistischer und demokratischer Zeitungen & Zeitschriften, z.B. der "Weltbühne" und der "Vossischen Zeitung". 1937 schloss mich Goebbels als politisch unzuverlässig aus der Schriftumskammer aus und verbot mir bei Strafe jede weitere Veröffentlichung, untersagte auch den Vertrieb eines 1936 unter dem Pseudonym Peter S. Steinhoff erschienenen Romans "Der Schatten Gottes", den Hermann Hesse, Ernst Wiechert u.a. öffentlich lobten.
Ich arbeitete danach als Jurist in dem Berliner Bankhaus A.E. Wassermann, einer materiell anerkannten amerikanischen Firma, die sich in "v.Heinz, Tecklenburg & Co" umbenennen mußte. Hauptbeteiligter ist der bekannte amerikanische Bankier J.W. Hambuechen, der zur Zeit vielleicht sogar in Berlin ist. Seit der zweiten Verhaftung des Mitinhabers Albrecht Graf Bernstorff, des 1933 verabschiedeten deutschen Geschäftsträgers in London, habe ich praktisch als Generalbevollmächtigter dieses Instituts gewirkt. Es verwaltete den wesentlichen Teil des Vermögens der sogenannten "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland", die unmittelbar der Reichsführung SS unterstand. Das gestattete mir, in überaus gefährlichen Verhandlungen mit den obersten Beamten Himmlers (unter Verschweigung meiner Identität), noch im vorigen Jahr einem Dutzend Berliner Juden zur Ausreise in die Schweiz zu verhelfen. und nach Schweden
Im Herbst 1944 wurde ich zu einer Strafkompanie der O.T. eingezogen und hatte Marschbefehl nach Weimar. Ich ging in die Illegalität, hielt mich hier bei Freunden verborgen und wirkte zusammen mit ihnen in einem Ortskomitee Freies Deutschland. Vor Einmarsch der Russen haben wir die Nazi-Verwaltung gestürzt, die Vorräte & die Gemeindekasse sichergestellt, die Barrikaden beseitigt & weiße Fahnen gehißt. Jetzt bin ich hier stellvertretender Bürgermeister (Krummhübel hat zur Zeit etwa 3000 Einwohner), Leiter der Antifaschistischen Liga und auch sonst politisch tätig. Wir haben mit Genehmigung des polnischen Bürgermeisters mehrere öffentliche Versammlungen abgehalten, in denen ich über weltanschauliche Probleme & über Tagesfragen freimütig sprechen konnte. Die Auseinandersetzung mit unseren Pgs und Militaristen haben die Polen uns überlassen. Wir haben sie geschlossen im Wegebau eingesetzt und werden selbst bei Einbringung der Ernte freiwillig helfen. Die Führung der Verwaltung unter den wechselnden Besatzungsbehörden und angesichts der sehr schwierigen Ernährungs- & Verkehrsverhältnisse, 
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vor allem aber die Bewältigung des Ansiedlungs- und Flüchtlingsproblems hat uns viel Kopfzerbrechen verursacht. Es hat sich aber auf der gemeinsamen antifaschistischen Basis am Ende noch immer eine erträgliche Lösung gefunden. Ich selbst genieße außerdem den Schutz der tschechischen Grenzbehörden.
Zur Zeit der russischen Besatzung war beabsichtigt, daß  ich in Hirschberg eine deutsche Zeitung herausgeben sollte. Dieser Plan ist inzwischen hinfällig geworden. – In den ersten Wochen der Kapitulation habe ich hier auch Schule gehalten.
Ich arbeite mit dem jüdischen Hilfskomitee in Hirschberg zusammen. (Im Lager Theresienstadt sind meine sämtlichen väterlichen Verwandten umgekommen).
Mit dem bekannten Illustrator des Ullstein-Verlages Linnekogel arbeite ich an einem Film-Manuskript, mit dem ebenfalls hier lebenden sozialistischen Schriftsteller Gerhart Pohl an einer politischen Broschüre. Als Autor von Bühnenstücken habe ich auch auf diesem Gebiet Erfahrungen.
Jetzt habe ich den dringenden Wunsch mitzuarbeiten am Aufbau des neuen Deutschland. Wie und in welcher Weise, ist mir gleich. Je verantwortlicher die Tätigkeit, desto lieber wäre sie mir.
Gemeldet war ich zuletzt in Zehlendorf, Hohenzollernstr. 16, wo ich nach Ausbombung des Hauses Hortensienstrasse 63, bei meinem Freund Julius Alex Steinheuer (Inhaber der "Vereinigte Juweliere") Unter den Linden) bis Januar 1945 gelebt habe.
Gewährsmänner zu nennen, erscheint mir ziemlich sinnlos, da ich nicht weiß, ob sie leben und in Berlin sind. Auf gut Glück nenne ich den schon erwähnten Grafen Bernstorff (zuletzt im Gestapo Gefängnis Lehrterstrasse), den Schriftsteller Walter Karsch (letzter Redakteur der Weltbühne, Zehlendorf, Ladiusstr.11), den Rechtsanwalt Dr. Günter Rosener, mit dem ich zusammen die Juden-Auswanderungs-Transaktionen leitete, den früheren Ministerialrat und Abteilungsleiter der jüdischen Reichsvereinigung Dr. Bandmann, meinen Verleger Walther Kahnert, Grunewald Karlsbaderstr. 18 oder seinen Sozius Dr. Ernst Winkler (Herbig-Verlag, Raben-Presse). Vielleicht erinnert sich auch noch Erich Weinert an mich, mit dem ich z.Bspl. in der Leitung von Kurt Hillers Gruppe "Revolutionäre Pazifisten" zusammen arbeitete. Dass ich nach 1933 dauernd mit der Gestapo zu schaffen hatte, erwähne ich nur der Vollständigkeit halber.
Wenn Sie mich dort brauchen können, erreichen mich Nachrichten hier in Krummhübel, Haus der Apotheke oder auf dem Landratsamt in Hirschberg (Jelenia Gora) zu Händen des Herrn Geist. Der Überbringer dieses Schreibens, Herr Harry Frömberg, ist in der Lage, falls Sie über einen schnelleren und sicheren Boten nicht verfügen, den Antwortbrief in einiger Zeit hierher zu befördern. Für eine Rückäusserung wäre ich in jedem Falle dankbar.

gez. Dr. Peter Alfons Steiniger

 

Anmerkungen:

Zu den Lebensumständen der Familie Steiniger in Krummhübel siehe auch: Lebenserinnerungen von Sigrun Dreschel, geb. von Unwerth (Seite 30 ff.) in der Familienchronik der Weddigens

Die Passage zur Ausreise einer Gruppe von Juden noch im Juni 1944 bezieht sich auf den „Guatemala-Transfer“, bei dem die Gestapo nach hohen Geldzahlungen für den angeblichen Erwerb des Anteils eines deutschen Nazis an einer Fabrik in dem zentralamerikanischen Land Ausreisevisa ausstellte. Aussagen zum Ablauf, zu den Beteiligten und zur Rolle von Peter Alfons Steiniger in den zweieinhalb Jahre währenden Verhandlungen finden sich in der Sammlung der Berichte von Augenzeugen der The Wiener Holocaust Library:

Bericht über den sogen. Guatemala-Transfer,
Dr. Bruno May, Januar 1956

Ergänzender Bericht nach Interview
mit Hedwig Haberland, 1956

Peter-Alfons Steiniger auf einer Aufnahme von 1942/43