„Kollaps der demokratischen Institutionen“

Maria Augusta Ramos ist eine brasilianisch-niederländische Regisseurin. Ihr  Dokumentarfilm „O processo“ über die Amtsenthebung von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff 2016 hatte auf der Berlinale Weltpremiere und kam in der Abstimmung um den Panorama-Publikumspreis auf den dritten Platz. Siehe Rezension von Kai Köhler: „Putsch mit Ansage“ (junge Welt vom 22.2.2018)

Brasiliens Medien haben die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT 2016 minutiös verfolgt. Warum war es Ihnen wichtig, den Ablauf des Prozesses selbst noch mal im Film festzuhalten?

Mein Film soll die Reflexion über einen wichtigen historischen Moment ermöglichen. In den großen brasilianischen Medien herrschen Sichtweisen und Argumentationslinien zur Rechtfertigung ihres Sturzes vor. Der Film gibt auch Gegenargumenten Raum, der Sicht der Linken.

Ist er auch an ein ausländisches Publikum adressiert?

Aufbauend auf meinen Erfahrungen in diesem Genre versuche ich, Filme so zu machen, dass sie überall wirken können. Dabei gehe ich von meiner persönlichen Sicht auf die Dinge aus. Es ist aber klar, dass ein Publikum, das dieses Stück Geschichte nicht wie wir Brasilianer selbst miterlebt hat, das die handelnden Personen nicht kennt, größere Schwierigkeiten haben wird, vieles zu begreifen. Mein Ziel war es nicht, die Wirklichkeit zu erklären. Sondern ich hinterfrage die Ereignisse.

Am Anfang stehen tumultartige Szenen der Abstimmung im Unterhaus, die zu Rousseffs Suspendierung führte. Wie haben Sie das damals empfunden?

thumbnail of jw_048_08_ansichtenWas dort abging, war ein schauriges Theater. Es war furchtbar, ein schmerzhafter Moment der brasilianischen Geschichte. Es ist unfassbar, dass der Abgeordnete Bolsonaro es sogar fertigbrachte, seine Stimme dem Folterer von Präsidentin Dilma während der Diktatur zu widmen. Weder ich noch die große Mehrheit unserer Bevölkerung haben einen solchen Kongress verdient. Mein Film setzt dort ein, weil unglücklicherweise diese Parlamentsabstimmung den Beginn des Verfahrens markiert. In einem Land, das völlig gespalten war und weiterhin polarisiert ist. Beim folgenden Prozess im Senat, darauf konzentriert sich der Film, wurde ein feineres Benehmen an den Tag gelegt. Man kann den komplexen Prozess noch einmal an sich vorüberziehen lassen. Nachvollziehen, was es mit Dilmas Dekreten, den ihr vorgeworfenen Haushaltsverstößen auf sich hatte.

Wann wurde Ihnen klar, dass die Verteidiger der Präsidentin keine echte Chance hatten?

Bereits ziemlich zu Beginn. Ich glaube, das ging dort allen so. In der Kommission des Oberhauses erlebten die Senatoren, die gegen die Absetzung waren, nur Niederlagen. Ein Spiel mit gezinkten Karten, das etwas bemänteln sollte. Es ging um die Fassade, darum, einen illegitimen Prozess als legitim erscheinen zu lassen. Ich erkannte, dass kein Amtsvergehen vorlag, was Voraussetzung gewesen wäre, die rechtmäßig gewählte Präsidentin abzusetzen. Wir reden ja von einem präsidentiellen, nicht von einem parlamentarischen System.

Warum hat Brasiliens Rechtssystem diesen Bruch zugelassen?

Weil es durchaus einen Kollaps der demokratischen Institutionen gegeben hat. Die Justiz spielt dabei eine wichtige Rolle. Wer den Film sieht, wird verstehen, dass es sich um einen politisch-juristischen Prozess handelte. Ricardo Lewandowski vom Obersten Gerichtshof saß dem Verfahren vor, doch die eigentlichen Richter waren die Senatoren selbst.

Manches bleibt bruchstückhaft. Dilma Rousseff selbst nähert sich der Kamera nur selten …

Der Film kann aus Zeitgründen nur eine Auswahl zeigen. Er handelt nicht von der Präsidentin, sondern vom Prozess gegen sie. Deshalb treten vor allem die Ankläger und Dilmas Anwälte auf. Eine zentrale Rolle haben die Senatoren um Gleisi Hoffmann, mittlerweile Vorsitzende der Arbeiterpartei. Dass Lula, eine äußerst wichtige Figur, einer der bedeutendsten Präsidenten, die Brasilien je hatte, nur am Rand auftaucht, bringt die Chronologie, die formale Struktur mit sich. So bleibt der Film konsistent.

Wie wirken die Ereignisse von damals fort?

Was wir heute sehen, die Putsche im Putsch, ist die Konsequenz daraus. Wir spüren das in Politik und Wirtschaft, durch die neoliberalen Konzepte, die die Temer-Regierung eingeführt hat. Wir leben jetzt im Ausnahmezustand.

Interview: Peter Steiniger. Veröffentlicht in: junge Welt, Ausgabe vom 26.02.2018, Seite 8 / Ansichten, Link