Liebesgrüße aus Stockholm

Es ist etwas faul im Königreich Schweden. Seine weiblichen Untertanen sind, so scheint es, Freiwild. Nirgendwo in Europa kommen pro Kopf so viele schwere Sexverbrechen zur Anzeige. Frauen werden dort häufiger genötigt als beraubt. Und neun von zehn Tätern landen niemals vor Gericht. „Die Botschaft an Vergewaltiger: Schweden liebt euch!“ kommentiert der US-Filmemacher und Bestsellerautor Michael ­Moore solche Zustände in einem offenen Brief an die schwedische Regierung. Darin wundert sich der berühmte Grob­aufklärer über den Elan, welchen Schwedens Justiz bei den Ermittlungen gegen Wikileaks-Gründer Julian Assange entwickelt. Nun auf einmal gebärdeten sich die Schweden als „Kreuzritter gegen Vergewaltigungen“, und deshalb „stinkt die ganze Sache zum Himmel“.

Moore weist auf eine lange Tradition hin, sexuelle Anschuldigungen für politische Zwecke zu mißbrauchen, gegen Minderheiten und Unruhestifter, ob „schuldig oder unschuldig“. Er schließt sich der feministischen Kulturkritikerin Naomi Klein an, die schrieb: „Vergewaltigung wird bei der Verfolgung von Assange genauso benutzt, wie die ›Befreiung der Frau‹ dazu benutzt wurde, um in Afghanistan einzufallen. Wacht auf!“

Das sind schwere Geschütze, die zur Verteidigung des neuen linken Heilands abgefeuert werden. Treffen sie auch ins Schwarze? Offensichtlich leistet Schweden in der Causa Assange den USA einen Freundschaftsdienst. Denn auch dort möchte man ihn an die Wand nageln, die extreme Rechte fordert seinen Kopf. Assange ist gleich Wikileaks. Die Plattform, aus der ein wenig Herrschaftswissen tröpfelt, ist zu einem umkämpften Symbol zwischen den Verteidigern freier Information und jenen geworden, die das Internet abdichten wollen. Das Sex-and-Crime-Spektakel lenkt ab von einer Rachejustiz in den USA selbst, welche Whistleblower wie den Exsoldaten Bradley Manning für Jahrzehnte ins Loch bringen kann.

Die Wahrheit ist auch im Propagandakrieg das erste Opfer. Gerade Linke sollten sich die Munition genau ansehen, die sie dabei verschießen. Als Fakt scheint oft zu gelten, was ins eigene Weltbild paßt. Im „Vergewaltigerparadies“ Schweden schreibt das 2005 novellierte Strafgesetz sexuelle Integrität und Selbstbestimmung groß. Der Tatbestand der Vergewaltigung wird weit ausgelegt und umfaßt seit 2005 auch Übergriffe, die bis dahin als Nötigung galten. Die Anschuldigungen gegen Julian Assange beziehen sich auf solche Delikte. Es ist eine zweischneidige Sache mit diesem Gesetz: Frauen werden dadurch besser beschützt, doch es dringt auch in Grauzonen zwischenmenschlicher Beziehungen vor. Das Schlagwort „Vergewaltigung“ macht sich gut in den Headlines, während so wirkliche Gewalttaten von Rechts wegen verharmlost werden. Statistische Vergleiche sind auf diesem Gebiet mit besonderer Vorsicht zu genießen. Hohe Dunkelziffern, unterschiedliche Gesetzeslagen, die Stellung der Frau in der Gesellschaft und kulturelle Sichtweisen spielen dabei hinein.

Nur ganz wenige Personen können wissen, was sich im Dreieck aus Julian Assange und seinen beiden schwedischen Bekanntschaften abgespielt hat, oder ob sich dahinter ein Komplott verbirgt. Doch die Internet-Frontschweine haben auch so eine klare Meinung. Sofia Wilén und Anna Ardin, die bis dato als linke Aktivistinnen galten, würden ein schmutziges Spiel spielen. Man hängt sie steckbriefartig aus, versehen mit frauenfeindlichen und homophoben Etiketten: das Groupie und die berühmt berüchtigte Hardcore-Lesbe und Feministin. Soll heißen: Die Flittchen sind doch selbst schuld. Als erwiesene Tatsache wird verbreitet, daß Ardin mit der CIA in Verbindung steht. Wie schließlich alle systemkritischen Kubaner, und zu solchen hatte sie Kontakt. Für Dollar wechseln demnach feministische Lesben auch mal die sexuelle Orientierung. Stille Post Internet: Durch Verstümmelung eines kubanischen Zeitungsberichts wurde ihr Geburtsort nach Kuba verlegt. Das paßt ins Bild. Tatsächlich ist Svea Anna Carolina auf einer Insel geboren. Doch die heißt Gotland und liegt in der Ostsee.

Eine geringe Aufklärungsquote liegt bei Anzeigen zu Vergewaltigungen in der Natur der Sache – weltweit, auch in Amiland. Die meisten Vorfälle spielen sich im persönlichen Umfeld ab, die Beweislage ist oft unübersichtlich, Aussage steht gegen Aussage. Auch in Deutschland wurde, bereits 1997, der Tatbestand auf subtilen Zwang und Delikte in Beziehungen ausgeweitet. Die Zahl der Anzeigen ist gestiegen, doch proportional kommt es zu weniger Verurteilungen. Die Quote liegt nur wenig über der beim nördlichen Nachbarn. In Schweden hat der Fall Assange eine breite Debatte im Internet unter dem Motto „Prata om det“ (Sprich darüber) ausgelöst. Frauen schildern darin erstmals Erfahrungen mit verdrängten sexuellen Übergriffen. In der Linken wird seit Jahren kontrovers diskutiert, wie gesetzlicher Schutz mit einer Politik der sexuellen Befreiung auszutarieren ist.

Von Peter Steiniger. Quelle: https://www.jungewelt.de/2010/12-29/017.php