„Ich vermisse die Wertlosigkeit des Geldes“

Der Schauspieler Uwe Kockisch machte sich als vielschichtiger Charakterdarsteller einen Namen auf der Bühne und im Film. Seit 2003 ist er der melancholische „Commissario Brunetti“ in den Venedig-Krimis der US-amerikanischen Schriftstellerin Donna Leon.

Sie genießen große Popularität als Darsteller des Commissario Guido Brunetti in den „Donna Leon“-Romanverfilmungen von Sigi Rothemund. Was denkt der Commissario Ihrer Meinung nach zur Abwahl Berlusconis?

Brunetti ist Donna Leons Sprachrohr, um Mißstände in der italienischen Gesellschaft aufzudecken. Auch wenn ihre Bücher kein politischer Diskurs sind, so handeln sie stets von politischen Themen und haben eine klare politische Aussage. Auch die Filme sollen mehr sein als nur eine Postkarte von Venedig. Brunetti begrüßt die Abwahl von Berlusconi natürlich sehr. Darsteller und Figur sind sich in dieser Frage übrigens völlig einig. Berlusconi ist für mich eine Witzfigur, allerdings eine gefährliche. Er benutzt den einfachen Trick, den puren Egoismus bei den Leuten anzusprechen. Auf die Frage, was er den italienischen Arbeitern sagen würde, wie sie mit ihrem Geld auskommen könnten, erklärte er im Wahlkampf: „Macht’s wie ich, macht Geld!“

Nach einem gescheiterten Fluchtversuch aus der DDR 1961 saßen Sie im Gefängnis und wurden dennoch später einer der profiliertesten Theater- und Filmschauspieler des Landes. Wie paßt das zusammen?

Der Grund, warum ich das Land verlassen wollte und in den Knast kam, war kein wacher, politischer. Es macht mir immer noch großes Vergnügen, mit Menschen aus dem „Westen“ über diese Zeit zu reden und das fragende Vorurteil zu sehen. Sie erwarten, daß man ihr Bild bestätigt, vor allem beim Zauberwort Stasi. Dann frage ich zurück: Willst du auch die andere Seite hören, wissen, wie das Leben war? – Wir haben den Wein ganz allein getrunken, ohne Staatsauftrag, wir haben gelebt und geliebt ohne Staatsauftrag und nicht ständig nach der Stasi geschielt.

Zur versuchten Republikflucht: Es war jugendliches Abenteurertum und eine große Ratlosigkeit, als plötzlich die Mauer da war. Ich bin ein kleiner unpolitischer Schieber gewesen. Ich hatte nämlich mitgekriegt, was ich, wenn ich eine Kamera Exa I, ein Spitzenprodukt der DDR, in Westberlin verkaufe, im Wechselkurs 1:3 dafür bekomme. Da läßt es sich ja leben, dachte ich mir. Ich habe gar nicht verstanden, warum das nicht alle machen. Und plötzlich ging das nicht mehr.

Ich bin froh, daß es nicht geklappt hat, daß ich noch am Leben bin. Denn die „Friedensgrenze“ wurde scharf bewacht. Wir wollten mit einem auf dänisch frisierten Kutter über die Ostsee türmen. Sie haben uns vorher geschnappt. Das alte Thema: Einer aus unserer Gruppe war verlobt und wollte seine Verlobte nicht mitnehmen. Da hat sie sich gerächt und der Stasi einen Tip gegeben.

Versehentlich haben sie mich dann ins Untersuchungsgefängnis Cottbus gesteckt, eigentlich hätte ich mit meinen 17 1/2 Jahren noch in die Jugendhaft gehört. Irgendwann bemerkte der Gefängnisarzt den Fehler. Da hat mein Anwalt bei der Verhandlung Einspruch eingelegt. Gegen den Verzicht auf Schadensersatzansprüche war ich nach einem dreiviertel Jahr wieder draußen. Da gab es also ein Stück Rechtsstaatlichkeit. Allerdings hatte ich jetzt diesen Makel in meiner Kaderakte und die Auflage, mir eine Arbeit zu suchen. Sogar im Zementwerk habe ich mich vergeblich beworben.

Welcher Weg führte Sie als vorbestraften Jugendlichen aus der Provinzstadt Cottbus zum Charakterdarsteller am Maxim Gorki Theater in Berlin, wo Sie über zwei Jahrzehnte auf der Bühne standen?

Nach dem Knast suchte ich nach einem Ort, wo ich mit meiner Vita unterkommen konnte. Da erinnerte ich mich an die Leute vom Stadttheater Cottbus. Die waren irgendwie anders. In meiner Not bin ich da hingegangen: So und so, ich war ein Jahr im Gefängnis, und ich muß eine Arbeit finden. Da haben sie mir den Job als Nachtpförtner angeboten. Klar, mache ich, habe ich gesagt. Bei den Proben habe ich mich dann irgendwo in den Rang gesetzt und zugesehen. Ich wurde immer neugieriger aufs Theater.

Und dann habe ich es tatsächlich gewagt, nach Berlin zur „Staatlichen Schauspielschule“ zu gehen und dort vorzusprechen. Doris Thalmer vom Berliner Ensemble hat die Prüfung abgenommen. „Passen Sie mal auf, tun Sie mir einen Gefallen, kommen Sie nie wieder.“ Da bin ich gegangen. Aber ein Student aus dem dritten Studienjahr reiste mir nach Cottbus nach, um mich zu überreden, die Aufnahmeprüfung erneut zu versuchen. Er hat dann mit mir gearbeitet. Ich mußte ihm versprechen, das in der Prüfung zu verschweigen.

Wie der Teufel es so will, kam ich wieder zu Doris Thalmer. Mittlerweile war ich in Cottbus zum Hilfsgarderobier aufgestiegen. Die Thalmer begrüßte mich: „Ach Gott, jetzt kommt ja schon wieder dieser Ankleider aus Cottbus.“ Hinterher fragte sie mich: „Hat jemand mit dir gearbeitet?“ – „Nein.“ Schließlich holte sie den Direktor, Prof. Rudi Penka – ein alter Antifaschist, der schon in den 50er Jahren bei Brecht am BE gespielt hatte. „Möchtest du gleich ins zweite Studienjahr oder willst du von Anfang an studieren?“ Und da bin ich in die Falle der Eitelkeit gegangen. Mann dachte ich, sooo gut bist du? Ich wollte das ganze Programm. Das dachte ich mir, sagte Penka nur. Der Hintergrund war, wie immer, viel dialektischer. Mit meiner Vorstrafe hätte ich mich überhaupt nicht bewerben dürfen. Erst nach dem Studium erfuhr ich, daß Penka für mich gebürgt hatte.

Nach dem Studium spielten Sie in Cottbus und Karl-Marx-Stadt, bevor Sie fest zum Ensemble des Maxim-Gorki-Theaters wechselten. Seit Anfang der 70er standen Sie in Polizeiruf-Folgen und zahlreichen Spielfilmen auch vor der Kamera. Was hat Sie am Film gereizt?

Film hat mich genauso wie die Bühne interessiert. Es ist ein anderes Arbeiten, oft konzentrierter. Aber auch gefährlicher – man kann durch die Häufigkeit auf dem Bildschirm schnell „verbrennen“. Theater und Filmarbeit ließen sich damals einfach kombinieren, die DEFA und die Bühnen haben gut kooperiert. Das war eine fast paradiesische Arbeitsweise. Eine besondere Arbeit war die mit dem Regisseur Ullrich Weiß. Ulli hat viel von Tarkowskis irritierender Filmsprache gelernt. Die war zwar bei der DEFA hochgelobt, aber besonders die Kulturfunktionäre hatten immer so ein komisches Bauchgefühl. Das wurde besonders beim Film „Dein unbekannter Bruder“, wo ich den KZ-Häftling Arnold verkörperte, deutlich.

Hatte die politische Bevormundung der Kunst, der Konflikt zwischen Geist und Macht, beim Film eine andere Qualität als beim Theater? Wie sind Sie damit umgegangen?

Filme können überall gezeigt werden, da wurde sicher mehr drauf geguckt. Aber Regisseure wie Weiß, Frank Beyer oder Konrad Wolf habe interessante Dinge angefaßt. Dasselbe gab es auch beim Theater, z. B. „Der Drache“ am Deutschen Theater. Wo ein Wille da war, war oft auch etwas möglich. Und es hängt immer von der Betrachtungsweise ab, wie man mutig interpretiert. Es ging ja nicht einfach nur gegen etwas, sondern um das Bemühen um Veränderungen, um ein Vorwärtsbringen der Gesellschaft. Das ist etwas, was viele Kulturfunktionäre nicht verstehen wollten. Funktionäre eben.

Es gab viele Ansätze, Dubcek, den Prager Frühling… Es gab ein ständiges Spannungsverhältnis zwischen denen, die auf die gegenüberstehenden Blöcke, die Machterhaltung als Selbstzweck fixiert waren und jenen, die gesagt haben, ich möchte es reifer machen, auch den Ansatz reifer machen. Jeder Druck erzeugt Gegendruck. Gerade aus der Kultur gab es immer wieder Versuche, die Stagnation aufzubrechen, aber es hat nicht gereicht. Nur, die Stagnation, und das wird auch in dieser Gesellschaft so sein, führt eben irgendwann ins Aus.

Hätte die DDR an die Mongolei gegrenzt, gäbe es sie vielleicht noch. Doch wir hatten den ökonomisch überlegenen Westen direkt vor der Haustür, du konntest sozusagen hindurch gucken. Die Habenseite, das Haben-Wollen, das ist schon verständlich. Wenn ich im Stahlwerk Riesa maloche und gucke dann in den Fernseher rein… Ich möchte nicht die abwerten, die tatsächlich schlimme Dinge erlebt haben. Aber ich kann nicht so tun, als wäre ich jede Nacht vor Angst aufgewacht. Natürlich war ich privilegiert durch den Schutz einer gewissen Öffentlichkeit. Wenn die Gespräche aus unserer in der Kantine des Stahlwerks stattgefunden hätten, aber hallo!

Und wie viele Generationen sollten die Leute noch vertröstet werden? Es gibt einen schönen Satz aus Tschechows „Drei Schwestern“. Der Oberst Werschinin, ein Militär, eine Knalltüte, philosophiert im Salon vor sich hin: In zwei-, dreihundert Jahren wird das Leben unvorstellbar schön sein! Etwas ähnliches hatte auch die DDR. Es wird schon noch, irgendwann geht die Sonne auf, und die bleibt dann auch immer oben.

Wie bilanzieren Sie Gewinn und Verlust, den die Wende für Sie und Ihre Arbeit gebracht hat, und in inwieweit sind Sie noch durch die DDR geprägt? Haben Sie sich so etwas wie eine Ost-Identität bewahrt?

Ich vermisse die Wertlosigkeit des Geldes. Damit meine ich nicht, daß es wirklich nur wertlos war. Aber es wird wichtiger als alles andere. Dahinter steht: Hast du es, bist du was.

In der DDR wurde mir mal gesagt: Was soll der ganze Quatsch mit dem Herumreisen. Immanuell Kant saß doch auch sein ganzes Leben nur in Königsberg. Welch hilfloser, blöder Satz eines Parteisekretärs. Als wir in Karl-Marx-Stadt den „Diener zweier Herren“ gemacht haben, gab es eine Szene mit der Rialto-Brücke. Die habe ich mir in einem Bildband angucken müssen – aber nichts gehört, nichts gerochen, nichts auf der Haut gespürt. Das ist der Unterschied. Dann komme ich nach Venedig und da ist diese Rialto-Brücke. Da habe ich schon einen Schmerz gespürt. Das konnte nicht funktionieren. Es ist ein Vorteil, daß ich mich jetzt wegbewegen kann. Allerdings nur räumlich. Dann-geh-doch-rüber funktioniert ja nicht mehr.

Beruflich habe ich im Grunde ohne auch nur einen Huckler weitermachen können. Einige gute DDR-Schauspieler hat es aus der Bahn geworfen, die Gründe dafür sind sehr verschieden. Wir sind in unserem Beruf nicht mehr so eng beieinander, es gibt kaum noch feste Ensemble. Teamarbeit ist mir wichtig geblieben. Wenn jemand meinte, er sei der Oberkommandierende, dann würde ich sagen: Guten Tag und Auf Wiedersehen. Für mich ist das Wort nein zu allen Zeiten wichtig. Wenn sich jemand verbiegt, wird er krank. Das Stück Freiheit ist zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich groß, aber du mußt es dir immer selbst nehmen. Dazu gehört auch eine Riesenportion Glück, und die hatte ich.

Uwe Kockisch während des Gesprächs in Berlin (Foto: Peter Steiniger)

Ein Verständnis für Dialektik gibt es heute nur noch unter den guten Schauspielern. Ich habe Regisseure erlebt, die glaubten, es ginge um Mundarten. Für den Beruf, wie ich ihn kenne und liebe, ist sie aber die Voraussetzung, um unter die Oberfläche von Geschichte und Figuren zu gelangen. Ohne dialektischen Ansatz kannst du das vergessen. Auch in der DDR gab es viele platte Filme, aber nicht in der heutigen Fülle. Na gut, es wurden auch weniger gemacht!

Ich bin genauso durch den Osten geprägt, wie der Westdeutsche durch den Westen. Wenn wir von 68 reden, reden wir nicht von demselben. Ach so, ihr meint euer 68 – Paris und so. Mich hat Jane Fonda in Berlin bewegt. Vietnam war für mich ein prägendes Thema. Heute wird darüber kaum noch gesprochen. Zum ersten Mal gab es Originalberichte aus einem originalen Krieg – der mit brachialer Gewalt und gegen jegliches Völkerrecht mit geächteten Waffen wie Napalm geführt wurde. Die haben etwas daraus gelernt: Die Bilder machen wir.

Wie vollzog sich Ihr Abschied vom Maxim-Gorki-Theater zur Westberliner Schaubühne? Gab es da einen Zusammenhang zu den politischen Umbrüchen?

Das Lob des Ensembles ist auch der Fluch des Ensembles. Wenn du über Jahre darin arbeitest, setzt irgendwann unausweichlich eine Stagnation ein. Du ahnst bereits, wie dein Partner atmet. Und eines Tages fühlst du, jetzt ist es genug mit der Familie, jetzt gehst du noch mal in die Welt hinaus. Meine letzte Rolle am Gorki-Theater war ein fröhlicher Blinder in Rolf Winkelgrunds Inszenierung „Die alte Frau brütet“ von Tadeusz Rozewicz. Ich habe mich als ein Blinder in einer neuen Zeit verabschiedet, das, finde ich, ist eine schöne Metapher.

Im letzten Jahr waren Sie in der ZDF-Produktion „Die Nachrichten“ von Matti Geschonneck (nach dem Roman von Alexander Osang) zu sehen. Wie bewerten Sie den Beitrag des Films zur Erzählung der schwierigen Nachwendegeschichte?

Dagmar Manzel sagt in ihrer Rolle als – natürlich einzige ostdeutsche – Spiegel-Redakteurin einen wichtigen Satz: Der Krieg hat noch gar nicht angefangen. Das zeichnet eine in der Luft stehende Wut der Figur. Bedeutend finde ich auch, wie Henry Hübchen dem Stasi-Offizier eine menschliche Würde gibt.

Zu der notwendigen Auseinandersetzung – wo kommen wir her, wie kommen wir zusammen – wird es wohl nicht kommen. Da werden die Mechanismen des Kapitals besser greifen. Wen interessiert denn eine Familie in Mecklenburg-Vorpommern, das eh als lachhaftes Land angesehen wird. Dann sitzt sie eben da. In den Sendungen sehe ich statt dessen, wie es einem Prinzen von Wales oder Herrn Jackson oder irgendeinem Arschloch so geht. Jeder ist seines Glückes Schmied, das soll den Leuten eingeredet werden. Was erfährst du von Demonstrationen, die jeden Tag irgendwo im Land passieren? Was nicht gesendet wird, existiert nicht. Das Gefühl von einem solidarischen Miteinander, wenigstens ein genaueres Hinsehen, ist im Osten noch immer stärker ausgeprägt. Welche Klischees aber vorherrschen, verraten Wörter wie Buschzulage oder Dunkeldeutschland nur allzu deutlich.

Sie haben gerade mit dem Regisseur Dominik Graf an einem Film mit dem Arbeitstitel „Eine Stadt wird erpreßt“ gearbeitet. Die Stadt ist Leipzig. Welche Erfahrungen haben Sie mit dieser Ost-West-Kooperation?

Ich habe Graf als einen großen Cineasten erlebt, der auch einen echten Begriff von sozialer Gerechtigkeit hat. In der aktuellen Produktion fühlte ich mich mehr als aufgehoben, und ich denke, wir haben gute Lösungen gefunden. Ich spiele Kalinke, einen früheren Leutnant der DDR-Kriminalpolizei. Auf Grafs Besetzungsliste standen übrigens viele Ostdeutsche und nicht nur ein paar Quotenossis. Die Einwohner eines sächsischen Dorfes, das von den Baggern der Energiekonzerne weggerissen werden soll, werden von Einheimischen gespielt. Wenn man etwas über Mannheim dreht, sollte man doch auch die Leute von dort nehmen.

Das Gespräch führte Peter Steiniger. Tageszeitung junge Welt, 22.04.2006, Wochenendbeilage, S.1-2, Link

Uwe Kockisch wurde 1944 in Cottbus geboren und lebt heute in Berlin. Er lernte sein Fach an der „Staatlichen Schauspielschule“ der DDR (seit 1981 Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“). Mehr als zwanzig Jahre spielte er am Maxim-Gorki-Theater sowie zwei Jahre an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin.
Seit 1974 spielt Kockisch auch in Kino- und Fernsehproduktionen. In verschiedenen Rollen wirkte er in „Polizeiruf 110“- und „Tatort“-Folgen mit.

Eine Auswahl von Filmproduktionen mit Uwe Kockisch:

„Dein unbekannter Bruder“ (1982), Regie: Ullrich Weiß; „Die Zeit der Einsamkeit“ (1984), Regie: Peter Vogel; „Treffen in Travers“ (1988), Regie: Michael Gwisdek; „Die Spur des Bernsteinzimmers“ (1992), Regie: Roland Gräf; Kriminalserie „Zappek“ (1995), Regie: Wolfgang Henschel, Stephan Meyer; „Abgehauen“ (1998), Regie: Frank Beyer; „Der Tunnel“ (2001), Regie: Roland Suso Richter; „Kleinruppin forever“ (2004), Regie: Carsten Fiebeler; „Die Nachrichten“ (2005), Regie Matti Geschonneck.