Das Tabu ist gefallen

Lange galt Schweden in Europa mit seiner liberalen Asyl- und Einwanderungspolitik und bei der Integration von Neuankömmlingen in Gesellschaft und Arbeitswelt als ein Vorbild. Mittlerweile orientiert sich das Land selbst an restriktiven Modellen. Die Wende kam mit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015, als Hunderttausende Krieg und Elend zu entkommen versuchten und sich über den Balkan und das Mittelmeer in die EU aufmachten.
Als eines der Hauptzielländer für diese Migration zeigte sich Schweden überfordert und errichtete für die Einwanderer neue Hürden. Fremdenfeindliche Kräfte nutzten die Situation zur Stimmungsmache gegen eine angeblich drohende Überfremdung des Landes. Bei den Reichstagswahlen 2018 stiegen die 1988 gegründeten ultranationalistischen Schwedendemokraten (SD) zur drittstärksten Kraft auf. In der Einwanderungsdebatte treibt SD die Minderheitsregierung von Sozialdemokratischer Arbeiterpartei (SAP) und grüner Umweltpartei vor sich her. Große Teile des bürgerlichen Lagers wiederum folgen ihnen in dieser Frage bereitwillig.
Im Bemühen, der rechten Konkurrenz Wind aus den Segeln zu nehmen, verweist die SAP auf ihre Verdienste: „Dank der von uns verschärften Gesetzgebung ist die Zahl der Asylbewerber um 90 Prozent und Schwedens Anteil an ihrer Aufnahme in EU von zwölf auf drei Prozent gesunken. Wir haben jetzt die niedrigste Asylaufnahmequote seit 20 Jahren“, twitterte die Partei Anfang Mai. Damit sei „der Grundstein für eine effektive Integration gelegt“.
Migrationsforscher sehen das ganz anders. Sie kritisieren, daß die Wende in der Flüchtlingspolitik es Einwanderern beträchtlich erschwert hat, in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Unsichere und befristete Aufenthaltsstatus rauben demnach Perspektiven, behindern beim Lernen, Studieren, der Suche nach Arbeit und Wohnung. Mehrdad Darvishpour, die an der Hochschule von Mälardalen zu Sozialarbeit forscht, betonte gegenüber der linken Zeitung „Flamman“, daß die aktuellen Regeln auf spekulativen Annahmen aufbauen. Die Auswirkungen der härteren Anforderungen für Asylbewerber auf ihre Integration seien noch wenig erforscht. „Aber die Untersuchungen bei unbegleiteten Flüchtlingen zeigen, daß Ungewißheit und langes Warten auf einen Bescheid zu mehr Depressionen, Ängsten und Kriminalität führen.“ Ähnlich äußert sich die Soziologin Torun Elsrud von der Linné-Universität in Växjö und Kalmar. In zwei Projekten erforscht sie die Situation von Familien, jugendlichen und alleinstehenden erwachsenen Migranten. Die Praxis immer wieder nur befristeter Aufenthaltsgenehmigungen mit strengen Auflagen für eine Verlängerung würde die Menschen zermürben. „Der Verlängerungsbescheid wird zu einer kurzen Atempause – man wird auf jeden Fall nicht gleich abgeschoben. Aber daraus wird ganz schnell die Erfahrung, keinen Zugang zur schwedischen Gesellschaft zu bekommen. Für die Integration ist das eine Katastrophe.“
Am 20. Juli laufen die 2016 erlassenen und von den Sozialdemokraten damals als „notwendige Auszeit“ deklarierten Regeln aus. Im Juni will die Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven deshalb im Reichstag ein neues Gesetz zum Asyl- und Einwanderungsrecht zur Abstimmung stellen. Die restriktive Linie schreibt es im wesentlichen fort. Hinsichtlich der Gültigkeitsdauer von Aufenthaltsgenehmigungen und den Anforderungen beim Familiennachzug bleibt Schweden bei härteren Regeln als der EU-Durchschnitt.
Nachdem der Versuch einer fraktionsübergreifenden Verständigung zu diesem Thema gescheitert war, erhielt die Vorlage der Koalition Konkurrenz. Am 2. Mai verabschiedeten die konservativen Moderaten, die Christdemokraten und die Liberalen gemeinsam mit der rechtsextremen SD eine Erklärung, die auf eine noch härtere Fremdenpolitik dringt. So wollen die vier im Bunde den Zuzug von Angehörigen von Einwanderern nach Schweden deutlich erschweren. Eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung soll erst nach drei Jahren Aufenthalt in Schweden möglich sein. Die Hürden dafür, unter anderem beim Nachweis von Einkommen und Sprachkenntnissen, sollen höher gelegt werden. Die Schwedendemokraten sind dabei längst noch nicht am Ziel ihrer Wünsche: Einwanderung aus anderen Kulturkreisen wollen sie faktisch ganz unterbinden. Menschen ohne schwedische Staatsbürgerschaft sollen nach ihren Vorstellungen als Schmarotzer behandelt und von Sozialleistungen ausgeschlossen werden.
Diese erste förmliche Übereinkunft mit etablierten Parteien feierte SD-Chef Jimmie Åkesson auf Twitter als „kleinen, aber historischen Schritt in die richtige Richtung“. Mit der Isolation der Rechtsextremen durch das gesamte demokratische Spektrum ist es nun endgültig vorbei. In den vergangenen Monaten hatte dieser Damm rechts immer mehr und immer schneller Risse bekommen. Nun geht es ohne Scham voran: Die Moderaten als größte Oppositionskraft und die Christdemokraten öffnen sich unverkennbar für eine Koalition mit den Rechtsextremen. Der Vorsitzende der Moderaten, Ulf Kristersson, sieht sich bereits als Schwedens künftiger Premier. Aktiv betreibt er die „Normalisierung“ und Integration der äußersten Rechten. Die SD hat sich in Kristerssons Augen „politisch verbreitert“ und zu seriöser parlamentarischer Arbeit gefunden.
Dabei lassen Kader der Schwedendemokraten immer wieder gucken, daß eine völkische Rassenideologie mehr als nur mitschwingt. Geboren wurde die Partei 1988 im Spektrum militanter schwedischer Nazigruppen. In den folgenden Jahren entwickelte sie eine enge Zusammenarbeit mit dem französischen Front National von Jean-Marie Le Pen. 2010 gelang der SD mit 5,7 Prozent der Stimmen erstmals der Sprung über die 4-Prozent-Hürde und damit der Einzug in den Reichstag. Vier Jahre darauf kam sie bereits auf fast 13 Prozent. Jimmie Åkesson, der der Partei seit 2005 vorsteht, arbeitete stetig an ihrer konservativ-nationalistischen Fassade. Der Fokus der SD-Politik richtet sich auf einen Einwanderungsstopp, dabei koppelt sie das Thema Migration mit sozialer Demagogie und Islamfeindlichkeit. Im Europaparlament zählen die Schwedendemokraten zur 2019 gebildeten blau-braunen Fraktion „Identität und Demokratie“, der auch Parteien wie die AfD, die italienische Lega, die FPÖ aus Österreich oder der französische Rassemblement National angehören.
Die nächste Reichstagswahl steht planmäßig am 11. September 2022 an. Erneut ist eine für die Regierungsbildung schwierige Konstellation zu erwarten. Löfvens Minderheitsregierung ist bereits jetzt ein immer wackeligeres Unterfangen. Im 349 Sitze zählenden Reichstag stützt sich die Koalition nur auf 116 eigene Stimmen. Damit ist sie mindestens auf die Fraktionen der Linkspartei und der sozialliberalen Zentrumspartei angewiesen, die dem Regierungslager zu einer hauchdünnen Mehrheit von einer Stimme verhelfen können. Die bisher als Stützpartei dienenden Liberalen sind umgefallen und beteiligen sich an der neuen Allianz mit den Schwedendemokraten für ein schärferes Einwanderungsrecht. Die Zentrumspartei steht auch nur „weitgehend“ hinter der Novelle der Koalition. Immerhin bezeichnet Parteichefin Annie Lööf eine Zusammenarbeit mit der SD weiterhin konsequent als „undenkbar“.

Von Peter Steiniger. Erschienen in „RotFuchs – Tribüne für Kommunisten, Sozialisten und andere Linke“, Nr. 281, Juni 2021, Seite 13, PDF-Archiv