Besuch bei der alten Dame

Vielen gilt sie als eine besonders typische Kubanerin. Sie bildet einen Schmelztiegel der Traditionen aus Kunst, Religion und Kultur des Landes, in dem europäische, indigene und afrikanische Einflüsse zusammenkommen. Zu ihrem runden Geburtstag hatte man sie tüchtig herausgeputzt. Und sie wird von Tag zu Tag weiter aufgehübscht. Davon zeugen Baugerüste an heruntergekommenen Kolonialbauten ebenso wie die bereits restaurierte Kirche Iglesia de la Soledad in der Calle República, eines von vielen christlichen Kirchenhäusern hier, oder die neugestaltete Fußgängerzone Callejón de los Milagros mit ihrem Kunstgewerbemarkt und der schicken Bar Casablanca. Im vergangenen Jahr feierte Kubas viertgrößte Stadt Camagüey ihren Fünfhundertsten.

Geboren wurde sie 1514 an der nördlichen Küste, noch als Santa María del Puerto del Príncipe. Doch wegen häufiger Überfälle von Piraten und Korsaren zog sie sich bald vom Wasser ins Landesinnere Zentralkubas zurück. Zwischen Zuckerrohrplantagen und Weideflächen für Rinder fand sie einen sicheren, ruhigen Hafen. Stadt durfte sie sich seit 1817 nennen und den aktuellen, für Deutsche nahezu unaussprechlichen Namen erhielt Puerto Príncipe erst 1903. Heute besitzt die Kommune mit ihren mehr als 300.000 Einwohnern sogar einen Flughafen, doch die meisten Besucher finden über die gerade mal zweispurige Carretera Central, die von 1927 bis 1931 errichtete größte Landstraße, welche Kuba von Westen nach Osten durchquert, hierher.

Hunderte Schätze

Auf den ersten Blick wirkt die Stadt noch geduckt und unscheinbar. An den Straßen reihen sich schlichte, einstöckige Häuser mit abgerissener Fassade, vergitterten Fenstern und ziegelgedeckten Dächern. In Kuba ist sie berühmt als Stadt der Kirchen, des Balletts und der bauchigen Tonkrüge (tinajones), die überall zu sehen sind und in denen die Bewohner früher das rare Regenwasser auffingen. Mit dem Labyrinth enger Gassen ihres historischen Zentrums mit seinen zahlreichen Jugendstilgebäuden und anderer Stätten von historischem Wert besitzt die Hauptstadt der größten Provinz Kubas zudem ein Stück UNESCO-Weltkulturerbe. Einer der Gründe dafür, sie aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken und zu einem der vorrangigen Entwicklungsprojekte der hiesigen Tourismusindustrie zu machen. Diese zielt vor allem auf devisenbringende Besucher aus dem Ausland. Von Camagüey aus finden sie auch an die Nordküste und die etwa 21 Kilometer langen schneeweißen Traumstrände von Santa Lucia, wo im smaragdgrünen Wasser eines der größten Korallenriffe der Welt liegt. Hier kreuzte schon Hemingway auf seiner Yacht Pilar und ließ sich beim Fischen und Saufen zu seinem berühmten Roman „Inseln im Strom“ inspirieren. Wahre Naturfreunde können bei den Inseln des Sabana-Camagüey-Archipels wilde Delphine und große Kolonien von rosa Flamingos bestaunen.

Bildschirmfoto vom 2015-07-21 18:02:08Zu seinem Glück ist Kuba ein so schönes, von der Natur und mit Sonne gesegnetes Land. Der massive Ausbau des Tourismus war einer der Rettungsanker, der es nach dem Kollaps der Sowjetunion und der Freundesländer in Osteuropa davor bewahrte, nach 1991 im Strudel der Krise unterzugehen. Die Einnahmen aus diesem Sektor sind auch für Camagüey unverzichtbar. Sie sichern einerseits den Erhalt der Altstadt selbst und dienen andererseits dazu, Programme zur sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und ökologischen Entwicklung voranzutreiben. Zweischneidig bleibt es dennoch: Die Devisenläden mit ihrem so bescheidenen wie überteuerten Sortiment sind den altertümlichen Bodegas für subventionierte Lebensmittel und einfache einheimische Produkte weit überlegen. Die neuen Geschäfte, Bars und Restaurants, deren Qualität seit der 2008 als „Aktualisierung des sozialistischen Modells“ begonnenen Reformen und mit der Zulassung vieler freier Berufe deutlich gestiegen ist, machen die Diskrepanz zwischen Mangel und Wohlstand für viele noch spürbarer. Für wohlhabendere Touristen entstehen aus früheren Palästen im Herzen der Stadt intime Oasen des Luxus. So das neuerstandene Hotel La Sevillana mit nur einer Handvoll exklusiver Gästezimmer in der Calle Cisneros, das mit seiner Architektur und wunderschönen Glasmalereien Zeugnis vom spanischen Einfluss in der Kolonialära ablegt.

Private Triebkräfte

Besser leben wollen auch die Kubaner selbst. Sie sehen sich nicht als Statisten im Museum einer in die Jahre gekommenen Revolution, das westlichen Besuchern so reizvoll erscheint. Die neben dem US-Embargo hier oft beklagte Selbstblockade löst sich, die Zeitkapsel bricht auf. Die jüngsten Schritte zur Normalisierung der Beziehungen zum großen, feindlichen Nachbarn sind dabei nur ein Faktor. Neben staatlichen Impulsen spielt auch die private Initiative eine wachsende Rolle. Statt Rum schlucken und abwarten heißt es nun anpacken. Ob Havanna, Camagüey oder Santiago de Cuba: Überall ist zu beobachten, wie kleine Existenzgründer Fassaden verschönern, ja, sogar den Müll von der Straße räumen oder Stolperfallen auf den Gehwegen vor ihren Geschäften beseitigen. Über diesen Punkt bereits hinaus ist Edel Izquierdo Fernández, der an der Plaza de San Juan de Dios, einem gepflasterten Platz mit bunten Häusern, der vollständig aus der Kolonialzeit stammt, das Restaurant „1800“ betreibt. Der Name des Lokals geht auf das Baujahr des Gebäudes zurück, das es beherbergt. Gegenüber befindet sich das ehemalige Hospital. Es wurde bereits 1728 errichtet, diente während der Unabhängigkeitskriege als Militärkrankenhaus und ist heute ein Nationaldenkmal und Museum. Das Restaurant mit seiner Toplage, einem tipptoppen, dabei antik wirkenden Interieur, einer vielfältigen Karte und moderaten Preisen zieht ausreichend Gäste für seine 130 Plätze an. Bereits seit drei Jahren ist sein Geschäft nun vollständig privat, berichtet der stolze Inhaber. Früher befand sich in seinen Räumen die Wohnung der Familie. Der Umbau erfolgte mit viel Eigenleistung und erforderte großes Organisationstalent. Izquierdos Angehörige arbeiten in der Küche, beim Bedienen der Gäste und hinter dem schönen Holztresen weiterhin mit.

Auch wenn längst nicht alle neuen Selbständigen – Vater Staat hat seit 2011 Hunderttausende ineffiziente Stellen gestrichen und fordert die Landeskinder auf, als Cuentapropistas, als „auf eigene Rechnung“ Arbeitende, ihr Glück zu suchen oder Landwirtschaft zu betreiben – eine vergleichbare Erfolgsgeschichte erzählen können, kommt die wirtschaftliche Belebung bereits im Alltag der Kubaner an. Das Angebot an Waren und Dienstleistungen nimmt sichtlich zu, die Bauernmärkte sind gut bestückt. Mit besonderer Spannung erwartet wird  eine „Aktualisierung“ in den Portemonnaies aller Kubaner. Neue Scheine zu 200, 500 und 1000 Peso Cubano sind im Umlauf. In immer mehr CUC-Läden wird nun auch die eigentliche nationale Währung, die Moneda Nacional, akzeptiert. Bereits 2013 hatte Präsident Raúl Castro angekündigt, dass die vor 15 Jahren eingeführte konvertible Zweitwährung CUC wieder abgeschafft werden soll. Wieder einmal steht Kuba vor einem schwierigen, großen und notwendigen Schritt.

Infos für Kubareisende: cubainfo.de

Von Peter Steiniger. Erschienen in: junge Welt vom 22.07.2015, Beilage „ALBA“, S.6, Link