Das große Brasilien hat sich vor aller Welt blamiert. Das Parlament als Tollhaus, die politische Kultur am Boden. Die ist ohnehin eine schwache Pflanze in einem Land, in dem aggressive Kampfmedien der Rechten den Ton vorgeben. In einem Land, das die Masse seiner Bewohner lange von Bildung fernhielt. In dem für die Ärmsten Politik nach wie vor das Spiel derer da oben ist und das Recht der Polizeistiefel, der Knast und die Kugel.
Die Impeachment-Abstimmung am 17. April im Unterhaus, ein absurdes Fest von Heuchlern und Demagogen, änderte den Blick von außen, zeigte die Plausibilität der Putschvorwürfe. Zum Ärger der heimischen Pressemogule. „Niemals sah ich Brasilien so tief sinken“, bemerkte im portugiesischen Telejournal „Expresso“ der Kommentator Miguel Sousa Tavares. Er sah eine „Generalversammlung von Banditen, kommandiert von einem Banditen namens Eduardo Cunha“. Der Parlamentspräsident ist Herr über Millionen in schwarzen Kassen und ein Kopf der Verschwörung gegen die Demokratie. Mehrere Abgeordnete forderten gleich nach dem Coup, Cunha wegen seiner „Verdienste um das Impeachment“ zu amnestieren. Ein Verfahren gegen Cunha im Ethikausschuss des Parlaments wird seit Monaten absichtsvoll verschleppt. Die Saubermänner des Ja-Lagers wollen mit dem Streich gegen Präsidentin Rousseff nicht zuletzt ihre eigene Haut retten. Angesichts der Situation in Brasilien spricht Tavares von einem „fruchtbaren Boden für einen Militärputsch“. Die Generäle dort dementieren ein „neues 1964“, betonen ihre Rolle als Hüter der Verfassung. Auf diese berufen sich allerdings beide Lager.
Korrupte gegen die Korruption, mit Gott, Familie und Vaterland. Vielleicht gehören sie auf die Couch, doch ihre Fahnenwörter sind nicht vom Himmel gefallen. Es sind dieselben, unter denen sich die Reaktion in der 1964er Krise sammelte. Der Umsturz von rechts soll heute eleganter getarnt werden. Und Hand aufs Herz: Konservatismus ist nicht per se verkehrt, auch die Medaille des Fortschritts hat stets zwei Seiten. Es war ja nicht alles schlecht in alten Zeiten. Die Menschen kannten ihren Platz, Männer waren noch Männer, die Kirche blieb im Dorf, Kinder wurden in Zucht und Ordnung statt in Sexualkunde unterrichtet.
Das ist keine blanke Ironie: Brasilien fehlt rechts das mäßigende Element. Reaktionäre und christliche Fundamentalisten nehmen dessen Platz ein. Durchs Web schwappt eine absurde antikommunistische Hysterie gegen die PT, Kuba und Venezuela. Der faschistische Abgeordnete Jair Bolsonaro, der die Folterknechte der Diktatur preist, ist in der reichen Oberschicht besonders populär. Widerständler wie Rousseff sind für diese Leute weiter „Terroristen“, vor denen das Vaterland zu retten ist. Nach 13 Jahren PT-Regierung wollen die Eliten nun „ihr“ Brasilien zurück. Die Täter von damals durften sich amnestieren – und ihr Geist geht weiter um.
Von Peter Steiniger, erschienen in: junge Welt vom 25.04.2016, S. 8, Link