Die Organisatoren hatten sich mehr versprochen, doch es wurden beträchtlich weniger: Bei den neuerlichen Demonstrationen gegen die Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff und ihre Arbeiterpartei PT kamen am vergangenen Sonntag landesweit in 218 Städten Brasiliens mehrere hunderttausend Teilnehmer zusammen. Die Veranstalter bauschten die Teilnehmerzahl auf eineinhalb Millionen auf.
Doch es war offensichtlich: Gegenüber dem letzten Protesttag am 15. März war die Beteiligung diesmal deutlich schwächer. Aufgerufen hatten wieder mehrere Gruppen, darunter „Vem Pra Rua“ („Komm auf die Straße“) und die „Bewegung Freies Brasilien“ (MBL), die sich als parteienfern bezeichnen. Die nationalistisch gefärbten Wutbürger haben sich den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen geschrieben und machen die sozialdemokratisch orientierte PT und die Linke allgemein für gesellschaftliche Missstände verantwortlich.
Nicht ohne Erfolg gelang es ihnen bisher, unterschiedliche Spektren Unzufriedener anzusprechen. Die PT stellt bereits seit 2003 das Staatsoberhaupt, in Brasiliens Präsidialsystem ist dieses zugleich Regierungschef. In dieser Ära konnten Millionen Brasilianer die Armut hinter sich lassen. Im Bundesparlament, dem Nationalkongress, ist die Partei auf diverse Allianzen angewiesen, bei den letzten Wahlen hat die Rechte hier an Boden gewonnen. Erst vor wenigen Tagen erlitt die Regierung hier eine Niederlage, als eine Mehrheit der Abgeordneten für ein Gesetz stimmte, das die Schleusen für ein Outsourcing von Beschäftigten in allen Bereichen öffnen soll.
Brasilien hat mit einer Wirtschaftsflaute und Teuerung zu kämpfen. In den Schmiergeldskandal um den staatlichen Ölkonzern Petrobras, welcher derzeit die Justiz beschäftigt, sind auch etliche Funktionäre der Arbeiterpartei verwickelt. Die großen Medienkonzerne, allen voran die Globo-Gruppe, unterstützten die Mobilisierung der Straße auch diesmal mit Sensationsmeldungen und Liveberichten.
Während die Zahl der Demonstranten gegenüber dem 15. März um mindestens die Hälfte zurückging, richtete sich der Tenor der Veranstaltungen noch deutlicher und aggressiver als zuvor gegen die Präsidentin. Unter Losungen wie „Weg mit Dilma“, „Weg mit der PT“ wurde die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens (Impeachment) gefordert. Parolen gegen Kuba und Venezuela und eine vermeintliche kommunistische Gefahr waren zu sehen, ebenso Aufrufe an die Armee, die Nation „zu retten“. Sie nehmen dabei Bezug auf das rechte Militärregime, das Brasilien von 1964 bis 1985 beherrschte.
Rousseff hatte im vergangenen Oktober in der Stichwahl gegen den Rechtskandidaten Aécio Neves (PSDB) knapp gesiegt. Vorausgegangen war ein harter Wahlkampf mit einer scharfen Polarisierung zwischen PSDB und PT, die ihre Hochburgen vor allem im weniger entwickelten Norden und Nordosten hat. Neves und ebenso die gleichfalls bei der Präsidentschaftswahl gescheiterte linksliberale Politikerin Marina Silva erklärten ihre Unterstützung für die Proteste.
Von Peter Steiniger. Erschienen in: junge Welt vom 14.04.2015, S.2, Link