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Wut im Bauch

Der öffentliche Nahverkehr und seine Tarife sind ein heikles Thema für die Menschen in Brasiliens Großstädten. Auf ihn angewiesen sind vor allem viele Bewohner der Ballungsräume, die sich oft über Stunden mit Bus und Metro viele Kilometer quälen müssen, um an ihre Arbeitsplätze in der City oder am anderen Ende der Stadt zu gelangen. Sofern sie überhaupt noch einen Job haben. Die Löhne sind niedrig – der offizielle Mindestlohn liegt bei umgerechnet etwa 240 Euro –, und man wird heute schnell gefeuert. Die meisten müssen jeden Real zweimal umdrehen, Millionen sind arbeitslos. Wer mit dem eigenen Auto unterwegs sein kann, kommt wegen der Staus kaum voran.

An den Fahrpreisen für den öffentlichen Personenverkehr entzünden sich stets aufs neue Proteste. Am 17. Januar hatte die Bewegung für dessen kostenlose Nutzung, MPL (Movimento Passe Livre), wieder zu einer Demonstration aufgerufen. Eine Woche zuvor waren die Ticketpreise für Bus, Metro und Bahn von 3,80 auf 4 Real (umgerechnet etwa ein Euro) pro Fahrt heraufgesetzt worden. Im Wahlkampf hatte der Millionär João Doria von der großbürgerlichen PSDB, seit 2017 Bürgermeister von São Paulo, noch versprochen, dass es dazu nicht käme. Die Empörung und die Wut in der Stadt waren groß. Viele sympathisieren mit der resoluten MPL, die auf die Politik nicht viel gibt und auf Aktion setzt. Die etwa 2.000 Teilnehmer des Protestmarsches vor zweieinhalb Wochen zogen durch den westlichen Stadtteil Pinheiros zum Largo da Batata, wo sich ein Busterminal und ein Bahnhof der als erstes vollständig privatisierten Linie 4 der U-Bahn befinden. Unter den Demonstranten waren auch etliche schwarz Vermummte. Glas splitterte, die Krawallpolizei knüppelte.

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Die bereits 2005 gegründete MPL fand 2013 über Brasilien hinaus Beachtung, als die Globo-Konzernmedien nach exzessivem Gewalteinsatz der Polizei im Straßenkampf überraschend ihre Sympathie für die Sache der Autonomen entdeckten. In großer Aufmachung wurden die vielen Missstände im Land und die Korruption angeprangert, die Menschen landesweit zu nationalistischen Massendemonstrationen aufgerufen. Die Rolle des Schurken in diesem Stück wurde der Regierung von Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei zugewiesen. Zu einer „Revolution“ in irgendeiner Farbe reichte es damals nicht, die Präsidentin wurde 2014 wiedergewählt. Zwei Jahre darauf aber stürzte man sie nach einem neuen Skript. Seit dem Staatsstreich von Kongress und Justiz geht es gegen die Arbeitenden und die Armen, wachsen die Not, die Sorge ums tägliche Überleben. Doch heute hält Globo wieder ausschließlich zu seinen alten Freunden.

Von Peter Steiniger. Fotos: José Eduardo Bernandes. Veröffentlicht in: junge Welt, 3./4.2.2018, Beilage „faulheit & arbeit“, Seite 4-5, Link