Man kann sich nicht (mehr) alles merken. Deshalb wurde dieser Bericht unter Nutzung einer großen Internetsuchmaschine erstellt. Und hierum geht es: Am Dienstag abend widmete sich die Vortragsserie „Berliner Depressionsgespräche“ dem Zusammenhang von einer immer stärker digitalisierten Umwelt und seelischer Gesundheit. Das Forum in einem Festsaal der Humboldt-Universität nahe dem Charité-Klinikum möchte regelmäßig zukunftsrelevante Themen in der Depressions- und Streßforschung aufgreifen. Als prominenten Gast hatte man Professor Manfred Spitzer gewonnen, dessen Bestseller „Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ viel Aufregung in die Feuilletons getragen hat. Die FAZ wirft Spitzer „analoge Ignoranz“ vor, Edelnerds und Smartphone-Junkies in Redaktionen und Talkshows bezichtigen ihn eines Hangs zum Kulturpessimismus.
Daß er einem solchen anhängt, daran ließ Spitzer in seinem vielbeklatschten Vortrag denn auch keinen Zweifel. Seinen Kritikern warf er vor, nur von dem auszugehen, was sie selbst glauben wollten, und dafür wissenschaftliche Standards und Studien zu ignorieren. Untersuchungen zum Fernsehkonsum hätten gezeigt, daß Kinder, die sehr viel fernsehen, in ihrer Kreativität zurückbleiben und ihre Bildungskurve später eher flach halten. Das sogenannte Unterschichtenfernsehen reproduziert also seine eigene Klientel und sichert sich so die hohen Einschaltquoten von morgen.
Auch eine Tierstudie bringt der Ärztliche Direktor der Psychiatrie der Ulmer Universitätsklinik ins Spiel, bei der Mäusen durch Berieselung mit Trash-TV die Birne weich wurde. Für Mäuse empfiehlt sich eben „Die Sendung mit der Maus“. Spitzers Verdammung der digitalen Welt klingt sehr absolut. Das Wie und Was kommt bei der Zuspitzung des Themas ebenso zu kurz wie der alte Lehrsatz des Paracelsus, daß die Dosis darüber entscheidet, ob ein Ding Gift ist oder keines. Bild und Bams, analog oder digital ist hierbei egal, mal ausgenommen.
Wichtiger ist jedoch, daß er stärker ins öffentliche Bewußtsein rückt, welche neurobiologischen Wirkungen Nutzung und Abhängigkeit von digitaler Technik hat. „Medienkonsum kann eins nicht haben – keine Auswirkungen auf das Gehirn.“ Die empirische Forschung zeige, so Spitzer, daß gerade beim Googeln am wenigsten in unseren grauen Zellen hängenbleibt. Hieß sie nun Valentina, Katherina oder Lisbeth? Ein Chat hinterläßt weniger Gedächtnisspuren als ein Gespräch. Vollends überfordert, negativ gestreßt und in ihrer Leistungsfähigkeit deoptimiert werden diese beim so hochgelobten Multitasking. Das ist in etwa so ergiebig wie das gleichzeitige Anschauen mehrerer Filme.
Erfahrungen und Lernen sind die Faktoren, die auf der „Großbaustelle Gehirn“ die Synapsen sprießen lassen. Facebook-Freundschaften reichen nicht, um angemessene Emotionen und Verhaltensweisen im Umgang mit anderen zu erlernen. Eine Playstation zu Weihnachten hält Spitzer auch für keine gute Idee: „Sie verschenken schwache Noten“. Überhaupt würde unter Schlagworten wie Medienkompetenz und Schlüsselqualifikationen, gefördert von der hiesigen Bildungspolitik, der Nachwuchs bereits in Kindergarten und Schule mit Spielen und Computern „angefixt“ und abgestumpft. Spitzer sieht hier den Einfluß der Medienkonzerne und von diesen bezahlte Institute walten. Den unkritischen Glauben an die neuen Medien könnten nachwachsende Generationen mit ihrer Gesundheit bezahlen. Bildung sei das beste Gegenmittel. Ein fittes Gehirn baut im Alter um Jahre später ab.
Großen Anklang fand die Mahnung des Mediziners, „die Köpfe der jungen Generation nicht denen zu überlassen, die sie vermüllen, und auch nicht dem Markt“, denn der verstünde nicht einmal etwas von Wirtschaft.
Berliner Wissenschaftsnetz Depression
Manfred Spitzer: Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. Droemer Knaur Verlag, München 2012, 368 Seiten, 19,99 Euro
Von Peter Steiniger. Quelle: Tageszeitung junge Welt, 13.11.2012, Nr. 274, S.13, Link