Zum Inhalt springen

Krimi am Sonntag

Fernando Haddad (rechts) tritt anstelle von Lula da Silva für die Arbeiterpartei als Kandidat an. (Bei einem gemeinsamen Wahlkampfauftritt mit der Parteivorsitzenden, Gleisi Hoffmann. Foto: Ricardo Stuckert) 

Am Sonntag erlebt das größte Land Südamerikas den ersten Höhepunkt im Superwahljahr. Mehr als 145 Millionen Bürger sind aufgerufen, die 531 Mitglieder des Abgeordnetenhauses in Brasília und 54 der 81 Senatoren, zwei Drittel des Oberhauses, neu zu bestimmen. Zur Wahl stehen auch die Gouverneure der 27 Bundesstaaten und des Hauptstadtdistrikts sowie deren Parlamente. Im Fokus des öffentlichen Interesses steht die Entscheidung über den künftigen Staatspräsidenten. Dem zum Jahresende scheidenden Michel Temer von der Demokratischen Bewegung (MDB) wird in Brasilien nur ein ganz enger Kreis Verbündeter nachtrauern. Stichwahlen finden dann am letzten Sonntag im Oktober statt. Um daraus als Sieger hervorzugehen, benötigen Bewerber um Temers Job und als Regierungschef in den Bundesstaaten die absolute Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen. Wählen dürfen Bürger ab 16 Jahren, für die Altersgruppe von 18 bis 70 herrscht Wahlpflicht. Die Demoskopen gehen davon aus, dass mehr Wähler denn je die Lust an ihrer in Skandalen watenden politischen Klasse verloren haben und den Urnen dennoch fernbleiben oder leer oder ungültig wählen werden.

Im bisherigen Kongress waren 27 Parteien vertreten. Bis auf Ausnahmen sind ihre Programme leere Hüllen. Sie dienen lediglich als Vehikel für elitäre Politunternehmer, die nicht selten mit ihrem ganzen Clan im Geschäft sind. Die enorm kostspieligen Wahlkämpfe sind entsprechend stark personalisiert. Wer als Kandidat eigenes Geld mitbringt, ist bei der Finanzierung der Kampagnen im Vorteil. Die Parteien erhalten dafür auch Geld aus öffentlichen Fonds, nachdem die „zweiten Kassen“, die oft illegalen Zuwendungen von Firmen an die politische Klasse, in Verruf geraten sind. Tatsächlich ziehen im Parlament Lobbys die Fäden, wie die der Großagrarier und der Evangelikalen. Vor allem die letztere rechnet damit, ihren Einfluss diesmal noch beträchtlich auszudehnen. Sicherheitskreise gehen davon aus, dass auch die landesweit operierenden Kartelle des organisierten Verbrechens an vielen Orten Einfluss auf die Wahl nehmen werden.

Eine Politikreform wusste die konservative Mehrheit im Parlament seit Jahren erfolgreich zu blockieren. Dafür stürzte es vor zwei Jahren die 2014 gewählte Präsidentin von der Arbeiterpartei PT per Amtsenthebungsverfahren. Die Bilanz des an ihre Stelle gesetzten Temer ist sozial so verheerend, dass seine wichtigsten politischen Verbündeten beim Rennen um die grün-gelbe Schärpe nun nur hinterherlaufen. Der Kandidat der großbürgerlichen PSDB – traditioneller Gegenpol zur Arbeiterpartei –, Gerardo Alckmin, liegt in den Umfragen bei 8 Prozent. Mit Temer möchte der langjährige Gouverneur von São Paulo nicht mehr in Verbindung gebracht werden, auch seine Partei zeigt Reue. Noch weiter abgeschlagen ist Temers MDB-Parteifreund Henrique Meirelles. Der ehemalige Zentralbankchef, bis vor kurzem noch Finanzminister, stellt im Wahlkampf nicht die neoliberalen Reformen der Jetztzeit in den Vordergrund, sondern erklärt sich zum Vater der wirtschaftlichen Erfolge in der Ära des PT-Politikers Lula da Silva. Der sitzt seit April im Gefängnis, seine Kandidatur mit großen Siegchancen wurde untersagt. Auch für Lulas Verurteilung wegen angeblicher Korruption hatten parteiische Richter gesorgt.

In das Vakuum, das diskreditierte „traditionelle Politiker“ hinterlassen, stößt von ganz rechts Jair Bolsonaro. Der Auftritt des früheren Hauptmanns steht unter dem Motto „Brasilien über alles und Gott über alle“. Er ist eng mit evangelikalen Kreisen und hohen Militärs verbunden. Bolsonaro sitzt seit 26 Jahren im Parlament, gehörte bereits acht Parteien an. Nun präsentiert er sich als Antipolitiker. In Umfragen kurz vor der Wahl gaben 35 Prozent an, für ihn stimmen zu wollen. In Brasiliens Machokultur kommt er mit seinen Hassreden vor allem bei jüngeren Männern an. Eine kleine Chance auf den Einzug in die Stichwahl hat Lulas früherer Integrationsminister Ciro Gomes, der für die PDT antritt, einen linken Diskurs pflegt und zugleich die PT attackiert, um Punkte bei Wählern mit entsprechender Phobie zu sammeln. Für am wahrscheinlichsten gilt aber ein Duell zwischen dem Faschisten und Lulas Ersatzkandidaten Fernando Haddad, der jetzt 22 Prozent Wähler hinter sich haben soll. Seine Koalition aus PT, Kommunisten, Trotzkisten und Republikanern vereint ein engeres Spektrum als die Projekte, mit denen die Arbeiterpartei früher Erfolg hatte. Wer sich noch auf die Seite der Demokratie schlägt, wird sich in Runde zwei zeigen.

Von Peter Steiniger. Erschienen in junge Welt, Ausgabe vom 06.10.2018, Seite 3, Link


Videobotschaft

Gleisi Hoffmann, Vorsitzende der brasilianischen Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) ruft ihre im Ausland lebenden Landsleute in einem an jW übermittelten Appell dazu auf, bei der Präsidentschaftswahl am 7. Oktober 2018 für Fernando Haddad zu stimmen.

Hallo Brasilianerinnen und Brasilianer, die Sie im Ausland wohnen!

In Brasilien stehen die Wahlen bevor. Sie alle verfolgen das mit. Am 7. Oktober geht es darum, wer unser Land für vier Jahre regieren wird.

Das ist eine sehr wichtige Entscheidung, bei der sich in Brasilien heute zwei Projekte gegenüberstehen: Ein Projekt zur Verteidigung der Demokratie, für eine nachhaltige und inklusive soziale Entwicklung, das Fernando Haddad repräsentiert. Und ein anderes, das wirtschaftsliberale und ausgrenzende, außerdem autoritäre Projekt, für das Jair Bolsonaro steht.

Es ist wichtig, dass Brasilien wieder damit beginnt, mit sozialen Rechten für die Mehrheit des Volkes seine Demokratie zu stärken. So war es während der Regierungen von Lula. Darum bitte ich Sie und ihre Angehörigen, die in Brasilien oder mit Ihnen im Ausland wohnen,
am 7. Oktober für Lulas Präsidentschaftskandidaten, für Fernando Haddad zu stimmen.
Haddad bedeutet die Verteidigung unserer Demokratie – der Verfassung von 1988 – der Rechte der Mehrheit des brasilianischen Volkes, der Arbeiterinnen und Arbeiter.

Wählen Sie die 13, wählen Sie PT, wählen Sie Fernando Haddad!


Sozialer Widerstand: Radikale Linke

Unter den Bewerbern um Brasiliens höchstes Staatsamt bildet dieses Duo den linken Rand: Guilherme Boulos, Nationalkoordinator der Wohnungslosenbewegung MTST, und seine Vizekandidatin Sônia Guajajara. Die Lehrerin, Krankenschwester und Ökosozialistin (geb. 1974) aus dem nordöstlichen Bundesstaat Maranhão ist die erste Indigene in der Geschichte des Landes, die zu einer Präsidentschaftswahl antritt. Sie steht an der Spitze des Indigenen-Verbandes Apib und ist ein prominentes Gesicht des Kampfes der Urvölker um ihre Territorien, für gleiche Rechte und gegen den Terror der Latifundisten. Der erst 35jährige Lehrer und Schriftsteller Boulos, jüngster Präsidentschaftsaspirant in der Geschichte Brasiliens, vertritt auch den Zusammenschluss von Initiativen „Povo Sem Medo“ (Volk ohne Angst). Dieser kämpfte aktiv gegen den institutionellen Putsch und tritt den neoliberalen Reformen der Temer-Regierung entgegen. Boulus hat sich eine Erneuerung der brasilianischen LInken auf die Fahne geschrieben. In Bezug auf die Arbeiterpartei agiert er kritisch, aber nicht sektiererisch, fordert die Freilassung Lulas aus der politischen Haft.

Die beiden kandidieren für eine Koalition aus der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) – im Juni 2004 von PT-Dissidenten als basisdemokratisch verfasste Alternative gegründet – und der kleinen marxistischen PCB. Besonders die Kampagne von Boulos und Guajajara repräsentiert den vielfältigen Widerstand von Schülern und Studenten gegen die Bildungsmisere, die feministische und die LBGT-Bewegung sexueller Minderheiten, die sozialen Kämpfe in den Favelas und an den Peripherien der Städte. Unterstützt werden sie von Intellektuellen, Künstlern und alternativen Medien. Der MTST – Ableger der Landlosenbewegung MST – ist für Brasiliens reiche Elite ein Erzfeind. Mit großen Besetzungsaktionen fordert er immer wieder für die etwa sieben Millionen Brasilianer ohne eigenes Dach über dem Kopf das in Artikel 6 der brasilianischen Verfassung von 1988 garantierte Grundrecht auf menschenwürdiges Wohnen ein. Es ist eines der gravierendsten sozialen Probleme, das sich mit der Krise und der Temer-Politik weiter verschärfte. Arbeitslosigkeit und Armut treffen immer mehr Familien. Gleichzeitig ziehen in den Metropolen, wo Leerstand und Spekulation herrschen, die Mieten an. Die vom MTST errichteten Wohncamps für obdachlose Familien dienen als politische Lernorte einer „Volksmacht von unten“ und sind Ausgangspunkt für Massenaktionen. Seit Mitte September halten so Hunderte Aktivisten eine frühere Textilfa­brik in der Mooca-Straße im Osten von Rio besetzt. Die Kandidatur der radikalen Linken dient der Mobilisierung dieses Spektrums, viele potentielle Wähler dürften jedoch angesichts der Gefahr von rechts bereits am Sonntag taktisch wählen. (pst)

Von Peter Steiniger. Erschienen in junge Welt, Ausgabe vom 06.10.2018, Seite 3, Link