Im VW-Werk Anchieta von São Bernardo in der Industrieregion von São Paulo läuft kein Wagen mehr vom Band. Seine Arbeiter sind in der vergangenen Woche in einen unbefristeten Streik getreten und halten die Fabrik besetzt, um die Rücknahme der Entlassung von 800 Mitarbeitern zu erzwingen. Den betroffenen Kollegen war zum Ende der Werksferien vom Unternehmen mitgeteilt worden, dass ihre „Anwesenheit am Arbeitsplatz vom 6. Januar bis zum 4. Februar nicht notwendig“ sei, sie also bezahlt freigestellt – und anschließend ihren Job los seien. In Versammlungen wurde daraufhin auf Arbeitsniederlegung entschieden.
Das VW-Werk Anchieta liegt in der als ABC Paulista bekannten Industrieregion im Umfeld der Metropole São Paulo, wo das Herz der brasilianischen Automobilindustrie schlägt. Anchieta ist der älteste Ableger des deutschen Volkswagenkonzerns im Ausland und beschäftigt etwa 13.000 Mitarbeiter. Hier ist auch Sitz der Zentrale von VW do Brasil. Bereits seit 1953 ist der Konzern im größten Land Südamerikas ansässig. Hier befindet sich auch die Entwicklungsabteilung mit einem Designzentrum, welches die Modelle den Bedürfnissen des brasilianischen Marktes anpasst. Am Standort Anchieta werden die Pkw-Modelle Gol, Parati und Polo sowie das leichte Nutzfahrzeug Saveiro und der Transporter T2 produziert. Neben Anchieta unterhält der Konzern Produktionsstätten in Curitiba, São Carlos und Taubaté mit insgesamt mehr als 20.000 Beschäftigten.
Brasiliens Arbeitsminister Manoel Dias erklärte seine Bereitschaft zur Vermittlung zwischen Metallarbeitergewerkschaft und Unternehmensführung. Ziel sei es, erklärte das Ministerium, „einen Ausweg zu finden, welcher nicht zu Lasten der schwächeren Seite, also des Arbeiters“, gehe. Beide Seiten seien verhandlungsbereit, so Dias. Das Unternehmen begründet die Entlassungen mit einem Rückgang der Nachfrage. Den seit 2012 und noch bis 2016 geltenden kollektiven Tarifvertrag wollte der Konzern bereits im Vorjahr verlassen, um die Produktion mittels Zwangsbeurlaubungen und einer Aufweichung des Kündigungsschutzes zu „flexibilisieren“. Dies wurde von Beschäftigten abgelehnt. Die Gewerkschaft beschuldigt das Unternehmen nun, einseitig Tatsachen schaffen zu wollen. Der VW-Konzern beruft sich auf die veränderte Konjunkturlage, Verkaufs- und Exportzahlen, die unter den Erwartungen blieben. Nach Jahren starken Wachstums ist dieses mittlerweile deutlich abgeflaut. Insbesondere der Rückgang der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt setzt der exportabhängigen Wirtschaft Brasiliens zu.
Mit den Entlassungen möchte der Konzern offenkundig Druck aufbauen, um die Beschäftigten zur Annahme schlechterer Konditionen zu zwingen. In einer Pressemitteilung verweist VW darauf, dass „am Standort Anchieta der Durchschnittslohn höher liegt als bei den wichtigsten Konkurrenten“. Auch bei diesen sieht es nicht rosig aus. Ford und General Motors feuerten nun ebenfalls Hunderte Automobilarbeiter. Das Mercedes-Benz-Werk in São Bernardo entließ zum Jahresbeginn 244 Beschäftigte. Am vergangenen Montag kam es deshalb dort zu einem Solidaritätsstreik der Werksmitarbeiter. Das Aus für die Arbeiter kam auch hier mit Ablauf einer Kurzarbeitsperiode (Layoff), in welcher der Staat einen Teil des Lohns trägt. Solche Layoff-Regelungen sind insbesondere in der brasilianischen Automobilindustrie ausgeweitet worden. Das Instrument soll dazu dienen, dass Unternehmen ihre personellen Kapazitäten auch während wirtschaftlich schwächerer Phasen aufrechterhalten können. Nach Prüfung durch das Arbeitsministerium dürfen sie Arbeitszeiten und Gehälter temporär bis auf ein Viertel oder den gesetzlichen Mindestlohn absenken beziehungsweise die Beschäftigung für Umschulungen ganz aussetzen.
Die ABC-Metallgewerkschaft (Sindicato dos Metalúrgicos do ABC) gibt sich weiter kämpferisch und mobilisiert die Arbeiter des Werks Anchieta von „Volks“ mit täglichen Versammlungen und Kundgebungen. Ihr Generalsekretär Wagner Santana („Wagnão“) erklärte: „Wir können diese Massenentlassungen nicht akzeptieren.“ Er schlägt einen Dialog der Gewerkschaftszentralen mit der Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff (Arbeiterpartei – PT) vor, um ein System zu schaffen, welches verhindert, „dass der Arbeiter den Preis für häufige Marktschwankungen zu zahlen hat“.
Von Peter Steiniger. Erschienen in: junge Welt vom 13.01.2014, S.15, href=“https://www.jungewelt.de/2015/01-13/002.php“ target=“_blank“>Link