Mit dem Ausgang der ersten Runde der landesweiten Kommunalwahlen zeichnet sich in Brasilien eine veränderte politische Landschaft ab. Nur etwa einen Monat nach der politisch motivierten Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) durch den Senat und der endgültigen Ausrufung von Michel Temer (PMDB) zum Staatschef waren die Bürger am Sonntag aufgerufen, ihrer Wahlpflicht nachzukommen.
Allein um die Bürgermeisterämter, darunter die der wichtigen Metropolen und der Hauptstädte der Bundesstaaten, bewarben sich mehr als 16.000 Kandidaten. Der parlamentarische Staatsstreich hat auch kommunal zu veränderten Konstellationen geführt. Allianzen der PT mit dem konservativen Lager wurden, auch auf Druck der Parteibasis, annulliert. Wieder enger ist der Schulterschluss mit den sozialen Bewegungen, die den Widerstand gegen Temers Rechtsregierung entscheidend tragen. Vor allem in Großstädten blieben die Bündnisse der Arbeiterpartei auf kleinere linke Partner wie die Kommunisten (PC do B) beschränkt, in zehn Hauptstädten traten ihre Kandidaten nur unter der eigenen Flagge an. Die Ergebnisse der Abstimmungen sind ein herber Schlag ins Kontor der Arbeiterpartei. Sie verlor 374 Rathäuser und stellt zunächst nur noch in 256 den Chef. In den Großstädten konnte sich ein Bewerber der PT lediglich in Rio Branco, der Hauptstadt des Bundesstaates Acre, durchsetzen. In sieben von 54 Städten mit mehr als 200.000 Einwohnern, in denen eine Stichwahl um das Bürgermeisteramt erforderlich ist, ist noch ein PT-Kandidat dabei.
Von großer machtpolitischer und symbolischer Bedeutung ist der Erfolg der konservativen PSDB, Partner und lauernder Konkurrent von Temer in Brasília, in der Metropole São Paulo. Der TV-Moderator und Multimillionär João Doria konnte sich als Vertreter des Unternehmerlagers bereits in der ersten Runde durchsetzen. Er ist ein Schützling des Gouverneurs des Bundesstaates São Paulo, Geraldo Alckmin, der ganz nach oben will. Auch rechte Evangelikale mobilisierten Wähler für Doria. Fernando Haddad von der PT blieb als Amtsinhaber chancenlos. Die Paulistas gaben höheren Tempolimits auf den Straßen den Vorzug vor einer menschlicher gestalteten Stadt. Etwas mehr als 30 Prozent der Stimmen genügten Doria zum Durchmarsch. Dem generellen Trend entsprechend haben auch in São Paulo mehr als ein Drittel der Wähler ungültig oder leer gewählt. Im Unterschied zu Temers rechtsopportunistischer PMDB profitierte auch landesweit die PSDB am meisten von den veränderten politischen Bedingungen. Der gerade erst zum Staatschef Ausgerufene bleibt faktisch ein Interimspräsident.
Einen Niedergang der Arbeiterpartei, wie ihn die Globo-Medien bereits herbeischreiben, bedeuten die Resultate längst nicht. Trotz der Medienkampagnen, öffentlichkeitswirksamer Manöver der Justiz gegen führende PT-Politiker, an der Spitze Expräsident Luiz Inácio Lula da Silva, und der gegen sie gerichteten Hasspropaganda in den Wahlkämpfen bleibt die PT ein Faktor in der politischen Landschaft. Fehler und Inkonsequenzen, die Zersplitterung der Linkskräfte haben die Niederlage begünstigt. Als Karrierevehikel hat die PT mit der Macht auch an Zugkraft eingebüßt. Die Partei verlor seit Beginn des Jahres eine große Zahl politischer Trittbrettfahrer. Etwa jeder vierte Mandatsträger wurde ausgeschlossen oder wechselte von sich aus auf das Ticket einer anderen Partei. Fliegende Wechsel von Partei zu Partei, die meisten ideologisch flexibel, sind in der brasilianischen Politik ebenso üblich wie völlig heterogene Wahlkoalitionen. Die Kampagnen vor den Wahlen sind ohnehin fast vollkommen auf die Kandidaten als Personen zugeschnitten.
Für Brasiliens Linke insgesamt brachte der Urnengang auch einige Lichtblicke. Besonders hervorzuheben ist der Einzug des Kandidaten der PSOL (Freiheit und Sozialismus), Marcelo Freixo, in Rio de Janeiro in die Stichwahl gegen den fundamentalistischen Gottesmann Marcelo Crivella. Ein Erfolg basisnaher und glaubwürdiger Politik. Sollte nach der zweiten Runde am 30. Oktober die PSOL erstmals eine Großstadt regieren, wäre das ein gravierender Ausbruch aus dem Rechtstrend.
Von Peter Steiniger, erschienen in: junge Welt vom 04.10.2016, S. 7, Link