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Um Gottes willen

Wer führt künftig das größte Land in Lateinamerika? Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff möchte für eine weitere Periode im Amt bleiben. Seit bereits zwölf Jahren hat die brasilianische sozialdemokratische Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores – PT) das Sagen im Palácio do Planalto in der Hauptstadt Brasília. Damals gelangte mit dem populären früheren Gewerkschaftsführer „Lula“ da Silva erstmals nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 ein Vertreter des linken Lagers an die Spitze der Regierung. Nicht nur die Stelle des Präsidenten der Republik ist an diesem Sonntag zur Wahl ausgeschrieben. Neu zu bestimmen sind auch zwei Drittel des Senats sowie die Abgeordnetensitze des Nationalkongresses. Auch über die Parlamente der 20 Bundesstaaten und deren Gouverneure wird entschieden. In Brasilien herrscht allgemeine Wahlpflicht. Sollte die PT das Rennen um die Präsidentschaft erneut für sich entscheiden, bleibt sie im nationalen Parlament weiter auf breite Koalitionen angewiesen.

Auf der Ebene der Länder und Städte gibt es die unterschiedlichsten politischen Allianzen. Im herrschenden Präsidialsystem hat das Staatsoberhaupt zugleich die Funktion des Regierungschefs. Entsprechend richtet sich das Interesse der Öffentlichkeit vor allem auf das Rennen um dieses Spitzenamt. Sollte keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit erhalten, gibt es zwei Wochen darauf eine Stichwahl zwischen den zwei Bestplatzierten.

In jüngsten Umfragen konnte Dilma Rousseff deutlich zulegen und ihre Führung ausbauen. Für ihre Wiederwahl wollen demnach im ersten Durchgang 40 Prozent stimmen. Als stärkste Konkurrentin gilt die Kandidatin der sich Sozialistische Partei nennenden linksliberalen PSB (Partido Socialista Brasileiro), Marina Silva. Auf die ideologischen Etiketten der meisten Parteien des Landes braucht man nicht viel zu geben. In der personalisierten Politik, deren Agenda von den großen Medien mitbestimmt wird, dienen sie vor allem als austauschbare Vehikel der Ämterkandidaten. Silva, die aus einfachsten Verhältnissen aufstieg, stellt sich als „dritte Kraft“ jenseits der etablierten und nicht wenig korrupten politischen Klasse dar. Bei vielen, die von „brasilianischen Verhältnissen“ die Nase voll haben, kommt das gut an. Silva war erst nach dem plötzlichen Tod des kaum aussichtsreichen PSB-Bewerbers Eduardo Campos am 13. August zur aktuellen Kandidatin gekürt worden. Zuvor war sie für die Vizepräsidentschaft vorgesehen. Silva wird vor allem als Umweltschützerin gesehen, die gegen Agrobusiness und industrielle Großprojekte der Regierung Front machte. Ihre heutige wolkige politische Agenda vereint wertkonservative Vorstellungen mit dem Schutz der Ökosysteme und neoliberalen Wirtschaftskonzepten. Das sichert ihr auch den Beistand oberer Kreise. Als aktives Mitglied der mächtigen Pfingstkirche „Assembleia de Deus“ hat sie in Brasilien lagerüberschreitend Rückhalt in evangelikalen Kreisen.

Noch bis vor fünf Jahren hatte Silva selbst der PT angehört und für diese bis 2008 als Senatorin und Umweltministerin hohe Ämter bekleidet. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen konnte Marina Silva, damals für die Grüne Partei (PV), fast aus dem Stand mit 19 Prozent der Stimmen ein starkes Ergebnis erzielen. Nun wird sie mit etwa 25 Prozent gehandelt. Kurz vor der Öffnung der Wahlkabinen schwindet jedoch ihr medial gepuschter Vorsprung vor dem Vertreter des traditionellen konservativen Lagers, Aécio Neves von der PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira). In einer Stichwahl gegen Rousseff werden Neves aber deutlich geringere Chancen als Silva eingeräumt.

Expräsident Lula unterstützte im Wahlkampf vehement seine als Technokratin geltende und mit weniger Charisma gesegnete Nachfolgerin. Jene, die „500 Jahre lang nichts für Brasilien getan haben“, dürften „nicht an die Macht zurückkehren“. Die Präsidentin stehe für Entwicklung und die Hebung des Lebensniveaus der Masse der Brasilianer. Zugleich deutete da Silva die Möglichkeit einer eigenen erneuten Kandidatur in vier Jahren an. Tatsächlich konnten in der PT-Ära Millionen Brasilianer in die untere Mittelschicht aufsteigen oder mittels Sozialprogrammen aus der schlimmsten Armut erlöst werden. Zugleich sind erhebliche Probleme des Riesenlandes und seiner Megastädte – Korruption, Gewalt, unzureichende Infrastruktur, kulturelle Rückständigkeit – weiter ungelöst. Die Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen entlud sich in den großen Protesten gegen die Milliardenausgaben für die FIFA-WM und für Olympia in Rio de Janeiro 2016. Außenpolitisch steht die Regierung Rousseff für eine selbstbewusst eigenständige und kritische Haltung zur globalen Vormacht USA.

 Von Peter Steiniger. Erschienen in: junge Welt vom 04.10.2014, Nr.231, S.6,Link

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