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Sonne, Mond und Sterne

Etwas Offenheit für das Mystische sollte man auf eine Reise nach Brasilien mitnehmen, wenn man dieses Land wirklich verstehen lernen möchte. Nicht nur, weil der Riese auf dem südamerikanischen Kontinent mit seinen gewaltigen Naturreichtümern, seiner Vielfalt an Kulturen und Lebensformen, seinem Völkergemisch und einer Gesellschaft voller Gegensätze zwischen Fortschritt und tiefster Rückständigkeit schon an sich phantastisch genug ist. Auch deshalb, weil es für die meisten Brasilianer als ausgemacht gilt, daß zwischen Himmel und Erde mehr Dinge existieren, als unsere fünf Sinne und der nüchterne Verstand erfassen können.

Religiöser Synkretismus: In Vale do Amanhecer mischen sich Christentum, Geisterglaube und Ufologie

Nominell zählen sich drei von vier Brasilianern der römisch-katholischen Kirche zu. Der Glaube an Christus geht nicht selten mit dem an Magie und Geister, an die afrobrasilianischen Heiligen, an Wissenschaft, Wiedergeburt und mitunter auch die revolutionäre Sache ziemlich reibungslos zusammen. Der Ober-Ratzi im fernen Rom und seine Glaubenswächter dürften wenig amüsiert sein.

In der kommerziellen Massenkultur Brasiliens sind übersinnliche Phänomene schon lange ein fester Bestandteil, meist im Mix mit christlichen Sinnbildern. In den Telenovelas erscheinen schon mal Verstorbene unter den Lebenden und Engel sagen den Protagonisten künftige Ereignisse voraus. Rührung ist dann bei vielen Zuschauern garantiert. Um sich die Förderung esoterischer und irrationalistischer Orientierungen nahezuführen, braucht man natürlich nicht um den halben Erdball zu fliegen. Parapsychologen und Geisterjäger sind längst globalisiert und auch in den hiesigen Medien aus der Fantasy-Sparte ausgebrochen. Esoteriker und Wahrsager finden in Deutschland ein breites Publikum, Sekten ziehen Menschen auf Sinnsuche in ihren Bann.

Stadt der Kirchen

Einen guten Überblick über das spirituelle Leben zwischen Amazonas und Zuckerhut bietet Brasília. In der Hauptstadt des fünftgrößten Staates der Erde finden sich Hunderte Kirchen, Orden und religiöse Stiftungen, die im brasilianischen Alltag allgegenwärtig sind. Wie Botschaften reihen sich hier die Gotteshäuser aneinander und wetteifern mit ihren Glaubensbekenntnissen. Vor allem die charismatische Bewegung kann sich über wachsenden Zulauf nicht beschweren. Auf einer großen Freifläche im Süden der Stadt ragt die Kathedrale der neoapostolischen Universellen Kirche des Königreichs Gottes wie eine gewaltige Betonburg empor. Was eher wie eine Konzernzentrale aussieht, ist auch eine, und zwar mit einem weltweiten Filialnetz. Ihr Gründer, Edir Macedo, ist längst nicht nur auf dem religiösen „Sinnmarkt“ ein gewichtiger Unternehmer. Seit zwanzig Jahren kontrolliert er den einflußreichen Medienkonzern Rede Record. In seinen Kirchen wird eine „Theologie des Wohlstands“ gepredigt. Nur wirkliche Treue zu Gott wird nach dieser Auslegung mit Gesundheit und finanziellem Reichtum belohnt – Umverteilung von oben nach unten einmal anders. Da ist es kein Wunder, daß sich auch der junge-Welt-Reporter eines Abends zur Messe einstellt, um sich mit dem Allmächtigen gutzustellen. Auf der Bühne heizen gleich fünf schneidige Prediger mit ohrenbetäubender akustischer Verstärkung dem Saal ein: „Wer ist der Herr, der einzige?“ Das Auditorium antwortet mit lautstarken Gebeten und Gesängen, die Hände nach oben emporgereckt. Ein Kamerateam zeichnet die Show auf – das Gebäude verfügt über modernste Sendeanlagen. Ich stelle schnell fest: Manchmal ist Treue ein zu hoher Preis.

Die Kleiderordnung der Sekte folgt eigenen Regeln

Zwar ist die römische Kirche noch bei weitem der Primus, was Macht und Einfluß betrifft. Doch auf dem politischen Feld ist auch das Gewicht jener Evangelikalen nicht zu unterschätzen. Die neue Rechte in den Vereinigten Staaten hat es vorgemacht. Vor allem auf die sogenannten Unterklassen besitzen sie beträchtlichen Einfluß und betreiben eine lebhafte, hochprofessionelle Propaganda. Elende Lebensbedingungen machen Millionen empfänglich für eine eifrige Suche nach Erlösung – wenigstens im Jenseits. In den Parlamenten versammeln „Evangelische Fraktionen“ Abgeordnete aus unterschiedlichen Lagern für gemeinsame konservative Werte. Ein schwerer Sperriegel liegt Liberalisierungen wie einer Zulassung von gleichgeschlechtlichen Ehen oder einer Straffreiheit bei Abtreibungen im Weg. Die „Lebensschützer“ sind in der Öffentlichkeit omnipräsent. Doch jedes Jahr bezahlen unzählige Brasilianerinnen den Weg zur „Engelmacherin“ mit schweren gesundheitlichen Folgen.

Daß religiös nicht mit reaktionär gleichzusetzen ist, daß die legitimen spirituellen Bedürfnisse von Menschen diesen auch fortschrittliche Impulse geben können, beweisen nach wie vor viele tausend kirchliche Basisgemeinden. Bereits unter der Militärdiktatur (1964–85) bildeten sie das Rückgrat der sozialen Bewegungen Brasiliens. Mit der Theologie der Befreiung trugen diese gerade unter die ärmsten Bevölkerungsteile politisches Bewußtsein und formierten den Widerstand. Auch zwanzig Jahre danach und unter einem Präsidenten „Lula“ da Silva von der Arbeiterpartei PT ist die soziale und rassistische Spaltung der Gesellschaft längst nicht überwunden. Heute engagieren sich Basisgemeinden auf vielen Gebieten: gegen die verheerende Gewalt in den Ghettos der Metropolen, für die Rechte der Frauen, für die indigenen Völker und den Umweltschutz.

Utopischer Ort

Verstreut über den Planalto Central, die Hochebene zwischen den Staaten Goiás und Minas Gerais, wo sich der Bundesdistrikt mit der Hauptstadt Brasília befindet, haben sich in den letzten Jahrzehnten Hunderte Sekten niedergelassen. Aus gutem Grund, wie sie meinen: Sie alle sind sich darin einig, daß man hier eine kommende Sintflut überstehen und einst die „Stadt des Dritten Jahrtausends“ erblühen wird.

Mit spiritueller Arbeit hat es Demerval zum „mestre de luz“ gebracht

Einstweilen jedoch steht hier noch die Stadt des zwanzigsten Jahrhunderts, reines Menschenwerk: Brasília. Ihren Kern bildet der Plano Piloto, die unter der Verantwortung des Stadtplaners Lúcio Costa und des Architekten Oscar Niemeyer mit dem Grundriß eines Flugzeuges in den fünfziger und sechziger Jahren errichtete Planstadt der Moderne. Das Cockpit bildet der „Platz der Drei Gewalten“ mit dem Präsidentenpalast, den Parlamentsgebäuden und dem Obersten Gerichtshof. Der Beschluß, im geographischen Zentrum des Landes, weitab der Zivilisation und der klassischen Zentren wie Rio de Janeiro oder Sao Paulo eine neue Hauptstadt zu schaffen, stammte schon aus der Verfassung von 1861. Doch erst unter dem Präsidenten Juscelino Kubitschek wurde das Projekt, gegen den Widerstand der alten Eliten, fortgeführt. Die meisten der mittlerweile zwei Millionen Einwohner Brasílias finden keinen Platz in den symmetrisch angeordneten Wohnblöcken des Plano Piloto, die ein betuliches, abgeschirmtes Paradies für öffentliche Angestellte und Beamte geworden sind, fernab der rauhen Realität des Landes. Sie leben in den Satellitenstädten mit ihren monotonen Hochhäusern oder den Favelas im Umfeld der Metropole.

Der Sonne entgegen

Bei einem längeren Aufenthalt in Brasília ist es sowohl ein Gebot der Neugier als auch eine notwendige Abwechslung, dem Christlich-Spirituellen Orden Vale do Amanhecer einen Besuch abzustatten. Dessen mystisches Zentrum liegt nur etwa eine Autostunde entfernt, nahe der Stadt Planaltina an der Grenze zwischen dem Distrito Federal und dem Bundesstaat Goiás. Der Weg führt über die Asa Norte, den nördlichen Flügel des Plano Piloto, vorbei am Ausläufer des Lago do Paranoá, einem gewaltigen künstlichen See von 40 Quadratkilometern Ausdehnung, der der Trockenheit dieser Re­gion entgegenwirken soll. Das Szenario am Rand der etwas holprigen Fernstraße wechselt rasch zu einfacher Bebauung und ländlicher Wirtschaft. Rinder- und Pferdezucht haben hier in der tropischen Savannenlandschaft des Cerrado Tradi­tion. Auf Wegweiser zum Vale do Amanhecer, dem „Tal des Sonnenaufgangs“, wartet man allerdings vergeblich. Lediglich handgemalte Glaubenswerbung am Straßenrand richtet sich immer wieder an den Verkehrsteilnehmer: Jesus – o único caminho. Daß es nur einen einzigen Weg gibt, ist gut zu wissen, doch führt dieser zu Gott. Also heißt es fragen, und nach ein paar Seitenstraßen über Land gelangt man an das bescheidenere Ziel. Ein Tor mit den hellen Symbolen von Sonne und Mond weist mir den Eingang zur Siedlung, welche das Zentrum des Ordens beherbergt.

Daß man als Besucher hier sofort auffällt, liegt nicht etwa am schlechten Karma. Die Kleidung und die weiteren Accessoires der Sektenanhänger weichen entschieden vom Alltagsüblichen ab. Die Frauen tragen vielfarbige Kleider, besetzt mit Sonnen, Monden und Sternen, bunte Schleier und Schärpen. Einige haben einen silbernen Brustpanzer angelegt oder tragen lange Speere. Die „Herren der Schöpfung“ sind in einer Kombination unterwegs, die teils an Kreuzritter, teils an Cangaceiros erinnert. Diese brasilianischen Cowboys aus dem bitterarmen Sertão im Nordosten Brasiliens waren bis in die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts als Banden Gesetzloser in Städten und auf Latifundien auf Beutezug gegangen. Bis heute werden ihre Heldentaten und Grausamkeiten in der Volkskunst überliefert. Viele der Menschen, die auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten in den Distrito Federal einwanderten, sind selbst Nordestinos.

Schnell findet sich ein freundlicher Führer, der mich durch das weitläufige Gelände mit seinen verstreuten Kultstätten, sozialen Einrichtungen, Schulen, Restaurants und Devotionalienläden begleitet. Ein „Salve Deus“ (Grüß Gott) ersetzt das Hallo oder Guten Tag zwischen den „Brüdern“ und „Schwestern“ in dieser Gemeinschaft. Zu den mystischen Ritualen selbst hat der Besucher keinen Zutritt, von denen nach einem festen Zeitplan ab Sonnenaufgang etliche zu absolvieren sind. Demerval ist etwa Mitte fünfzig und bekleidet den Rang eines „mestre de luz“, wie eines der Abzeichen verrät, die er sich im Dienst des Ordens bereits erworben hat. Er erklärt gern und ausführlich. Liebe, Toleranz und Demut seien die drei wichtigsten von Jesus von Nazareth übernommenen Grundsätze ihrer Lehre. Da möchte man selbst auch nicht hinter das preußische Toleranzprinzip zurückfallen.

Der „Meister des Lichts“, einer von vielen phantasievollen Graden in der Hierarchie, unterweist Neulinge in der Doktrin und betreut „Gefangene“. Diese „Prisoneiros“ sind keine Gefangenen im Wortsinn. Es handelt sich um Anhänger, die Probleme mit ihrem Vorleben haben. Allerdings nicht unbedingt mit dem gegenwärtigen. Denn sie halten sich für Wiedergeborene, die noch Sünden aus einem früheren Leben abzutragen haben. In Vale do Amanhacer wollen sie sich mit Gebeten und spirituellen Übungen die Erlösung verdienen.

Visionen am Steuer

Etwa zwanzigtausend Anhänger des hier praktizierten religiösen Synkretismus sollen sich bei Vale do Amanhecer niedergelassen haben. Es ist das größte Phänomen dieser Art in Brasilien. Ihre Doktrin ist ein solches Sammelsurium, daß es Programme postkommunistischer Parteien noch um Längen in den Schatten stellt. Neben dem Christentum fließen die Glaubensbekenntnisse von Azteken, Inkas und Mayas, von afrikanischen Religionen wie Candomblé und denen der Indianer ebenso ein wie solche aus dem alten Ägypten. Nicht zu vergessen Vorstellungen von „Ufologen“ über eine Zivilisationsstiftung auf unserem Planeten durch Außerirdische. Spritistische Elemente gehen auf Allan Kardecs Lehre aus dem 19. Jahrhundert über Geister und deren menschliche „Medien“ zurück.

Priesterin an der Estrela Candente, einer zentralen Kultstätte des Ordens

Begründet wurde der Orden vor vierzig Jahren von Neiva Chavez Zelaya, im Erstberuf Lkw-Fahrerin. Als spirituelle Seherin, genannt „Tia Neiva“, wird sie im Vale do Amanhecer weiter verehrt. Zunächst eine gute Katholikin, entdeckte sie nach dem frühen Tod ihres Mannes bald ihren Zugang zu paranormalen Kräften. Ein tibetanischer Mönch mit Namen Umahã soll sie bei ihrem Wandel zum „Medium“ als Lehrmeister gefördert haben. Auch mit dem Geist eines Inka, welcher als Pai Seta Branca im Mittelpunkt des Kultes steht, will sie fleißigen Umgang geübt haben. 1985 starb die Religionsstifterin, ihre Kinder nehmen heute wichtige Plätze in der Hierarchie der Sekte ein. In ganz Brasilien sollen etwa 300000 Menschen ihre Lehre praktizieren. Neben dem Zentrum in Vale do Amanhecer existieren noch etwa 360 kleinere Tempel, auch in Bolivien und Uruguay sowie in Portugal und Japan, wo es große brasilianische Gemeinschaften gibt.

Das Vale do Amanhecer sei rund um die Uhr für Hilfsbedürftige geöffnet, erklärt mein Begleiter. Und der Zustrom sei ungebrochen. Mit Absicht gäbe es keine Wegweiser zum Tal, denn die Leute in der Gegend würden Fremden stets gern den Weg zeigen, fügt er stolz hinzu. Der Betreuungsschlüssel ist nicht der schlechteste: Immerhin finden sich unter den Mitgliedern aktuell mehr als tausend qualifizierte „Medien“, die ihren kurzen Draht ins Jenseits spielen lassen können. Sie empfangen jeden Monat mehrere zehntausend Bittsteller.

Doch auch für den nur Neugierigen hat sich der Weg hierher gelohnt, waren die Beobachtungen erhellend. Der Meister lädt mich beim Abschied noch herzlich ein, bald einmal wiederzukehren. Ob ich wohl noch in diesem Leben dazu komme? Sonst gern ein anderes Mal.

Von Peter Steiniger (Text und Fotos). Tageszeitung junge Welt, 08.11.2008, Wochenendbeilage, https://www.jungewelt.de/2008/11-08/004.php

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