Schweden rüstet sich für einen massiven Ausbruch der neuartigen „Pandemie H1N1 2009“, der sogenannten Schweinegrippe oder Influenza A. Am 29. April hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Pandemiewarnung der Stufe fünf herausgegeben. Am 6. Mai wurde der erste Krankheitsfall in Schweden registriert.
Die Skandinavier füllen seitdem ihre heimischen Medizinschränke auf. Der Absatz der antiviralen Medikamente Tamiflu und Relenza hat sich mehr als verzehnfacht. Im August schraubte die WHO ihren Hinweis auf die höchste Stufe sechs herauf. Mit der Bekanntgabe des ersten Todesfalles – am vergangenen Freitag verstarb ein dreißigjähriger Patient im Universitätsklinikum von Uppsala – steigert sich die Alarmstimmung im Land weiter. Die Gesundheitsbehörden sehen sich mit einem Ansturm von Anfragen besorgter Bürger konfrontiert.
Grippe verdrängt Krise
Die Sensationslust der Medien trägt dazu bei: Das Thema verdrängt die Weltwirtschaftskrise und deren Durchschlag auf den einheimischen Arbeitsmarkt aus den vorderen Schlagzeilen. Dabei sind dessen Daten alles andere als beruhigend: Bis zum Jahresende 2009 wird mit einem Anstieg der offenen Erwerbslosigkeit auf 10,5 Prozent gerechnet, für das kommende Jahr sind satte elf bis zwölf Prozent prognostiziert. Der ökonomische Heilungsprozeß läßt also auf sich warten. Während die Rezession bisher vor allem männliche Beschäftigte in der Fertigungsindustrie trifft, lauert die Gefahr der Virusinfektion mit dem neuartigen Influenzavirus allen Bevölkerungsgruppen auf. Die Medien sprechen von einer bevorstehenden „Explosion“ bei den Krankheitsfällen. Die Behörden schätzen, daß sich ein Drittel bis die Hälfte der neun Millionen Einwohner anstecken könnte. Eine spürbare Beeinträchtigung des gesellschaftlichen Lebens und der Wirtschaft sei somit denkbar.
Die schwedische Regierung schloß mit dem englischen Pharmakonzern GlaxoSmithKline (GSK), der weltweit zu den fünf größten der Branche zählt, einen Liefervertrag über 18 Millionen Dosen des neu entwickelten Pandemieimpfstoffes, der frühestens Ende September, Anfang Oktober europaweit auf den Markt kommen soll. Bereits im November 2007 hatte es als „Pandemiegarantie“ eine Vorvereinbarung mit GSK gegeben. Für das Geschäft kommt der Steuerzahler mit 1,2 Milliarden Kronen auf (etwa 116 Millionen Euro).
Um die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen, wird die größte Impfaktion in der Geschichte des Königreichs vorbereitet. Beim großen Stechen sollen zuerst besondere Risikogruppen und medizinisches Personal an die Reihe kommen. Zur Vorbeugung gegen H1N1 müssen zwei Dosen im Abstand von 14 Tagen verabreicht werden. Die neue Vakzine besitzt, ebenso wie das bei der Vogelgrippe H5N1 zum Einsatz gekommene „Pre-Pandemrix“ Wirkverstärker, welche die Immunantwort des menschlichen Organismus ankurbeln. Die von den schwedischen Sozialverwaltungen zu Hunderttausenden gehorteten Präparate Tamiflu und Relenza können eine Virenvermehrung lediglich hemmen und so den Krankheitsverlauf abschwächen.
Für die bisher etwa 700 erkannten Schweinegrippefälle in Schweden ist ein meist „mildes“ Krankheitsbild typisch. Schwere Verläufe sind oft auf bereits vorhandene gesundheitliche Komplikationen, wie Herzmuskelentzündungen, zurückzuführen. Weltweit wurde beobachtet, daß H1N1 jüngere Menschen stärker bedroht, weil deren Immunsystem weniger Erfahrungen mit Viren sammeln konnte. Die Mortalitätsrate liegt klar unter der saisonaler Grippetypen.
Weniger Überträger sollen die Möglichkeiten von Virenmutationen verringern. Denn durch eine solche Antigenshift können völlig neue, weit gefährlichere Grippetypen auftauchen. Dieses Risiko geht allerdings nicht allein von H1N1 aus. Ob und wann dies irgendwo geschieht, ist nicht vorhersehbar. Die teuer angeschafften Impfstoffe könnten dagegen völlig wirkungslos sein. Ohnehin bleibt, was nicht verimpft wird, bei hohem logistischen Aufwand im gekühlten Zustand maximal noch zwei Jahre haltbar.
Als wäre es die Pest
In Krisenzeiten versetzen reißerische Schlagworte zur Schweinegrippe den gesellschaftlichen Resonanzboden besonders in Schwingungen. Auch die Pharmalobby und ihre PR-Strategen greifen die Ängste auf, um das Geschäft anzukurbeln. Angesichts der Headlines in der Boulevardpresse könne man den Eindruck bekommen, „daß wir in der Zeit der Pest leben“, kommentierte die linke Flamman.
Die Akzeptanz in der Bevölkerung für die anstehende Impfaktion ist hoch. Die Kontroverse zwischen bürgerlicher Regierung und Opposition aus Sozialdemokraten, Linkspartei und Grünen dreht sich nicht um Sinn und Zweck, sondern um Kosten und Profiteure. Bereits jetzt wirkt die Grippe als Konjunkturmotor bei Personaldienstleistern für Pflegekräfte im Gesundheitswesen und für die Hersteller von Handdesinfektionsmitteln. Das Kabinett von Premier Fredrik Reinfeldt bewilligte den für die Umsetzung der Massenimpfungen zuständigen Provinziallandtagen angesichts von „Tiefkonjunktur und angespannter Haushaltslage“ einen Zuschuß von einer Milliarde Kronen. Die Gesamtkosten des Antivirusprogramms werden auf 2,4 Milliarden geschätzt. Für die Bürger selbst bleibt die Impfung kostenfrei. Dafür hat Glaxo pro Dosis bereits 65 Kronen kassiert – fast das Doppelte des Preises für eine Standard-Grippeschutzimpfung. Die Linkspartei fordert nun die Schaffung einer staatlichen Impfstoffproduktion, damit sich Schweden in einem Krisenfall nicht in der Hand eines ausländischen Privatunternehmens befindet.
Von Peter Steiniger. Quelle: https://www.jungewelt.de/2009/09-04/006.php