Gern verweisen deutsche Politiker auf die erfolgreiche Familienpolitik in unserem Nachbarland im Norden. Gegen den europäischen Trend punktet Schweden mit einer vergleichsweise hohen Geburtenrate von durchschnittlich 1,8 Kindern je Frau. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 1,3.
Die Gesellschaft ist in vielen Bereichen familienfreundlich organisiert. Familien- und Bildungspolitik sind Kernelemente des schwedischen Wohlfahrtsstaates. Aus hiesiger Perspektive erscheint manches dort paradiesisch, zumal die Meßlatte tief hängt. Beim flächendeckenden Angebot an meist öffentlichen Krippen, Kindergärten, Ganztagsschulen und Horten finden sich auffällige Ähnlichkeiten zum DDR-Bildungswesen. Die schwedische Variante ist allerdings von einer Reformpädagogik geprägt, welche die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes stärker in den Mittelpunkt rückt. Das von der großen Koalition vom kommenden Jahr an eingeführte Elterngeld soll, dem skandinavischen Modell nachempfunden, Eltern die Entscheidung zur Familiengründung erleichtern. Es ist nicht als Sozialleistung für das Kind, sondern als einjährige Lohnersatzleistung für ein Elternteil konzipiert und liegt bei 67 Prozent des Nettolohns mit einer Obergrenze von 1800 Euro. Das ist als Anreiz für Normal- und Besserverdienende gedacht, also jene, die sich Kinder ohnehin leisten könnten. Eltern ohne Erwerbseinkommen werden mit monatlich 300 Euro abgespeist, und das nicht einmal mehr wie bisher für zwei Jahre, sondern nur noch für zwölf Monate.
Um Jahrzehnte voraus
Wie treu ist die deutsche Familienpolitik dem schwedischen Vorbild? Und wie süß sind die Paradiesfrüchte aus dem Norden wirklich? Schweden ist der Bundesrepublik mehr als dreißig Jahre voraus. Das Elterngeld, das hier „Elternversicherung“ heißt, ist nur eine Säule einer umfassenden Familienpolitik, die auf einer guten öffentlichen Kinderbetreuung, einer aktiven Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik und individuellen Rechtsansprüchen beruht. „Die Elternversicherung soll dem Wohl des Kindes dienen und zu einer verbesserten Gleichstellung zwischen den Geschlechtern beitragen“, so das Credo des Gesetzgebers. Derjenige, der das Kind zu Hause betreut, hat 13 Monate lang Anspruch auf 80 Prozent des Bruttolohns. Sechzig Tage dieser Zeit werden nur bezahlt, wenn sie vom anderen Elternteil, also in der Regel vom Vater des Kindes, in Anspruch genommen werden. Die Elternzeit kann sehr flexibel mit Teilzeitarbeit kombiniert und bis zum achten Lebensjahr des Kindes gestreckt werden. Für weitere drei Monate beträgt der einheitliche Satz knapp 200 Euro. Bei Krankheit des Kindes gibt es einen Anspruch auf Arbeitsfreistellung und Pflegegeld. Alle Gemeinden müssen berufstätigen oder studierenden Eltern einen Kindergartenplatz anbieten.
Der breite gesellschaftliche Konsens in der Familienpolitik kommt nicht von ungefähr. Ihre Ausrichtung ist von der Stellung der Frau in der Gesellschaft nicht zu trennen. Mehr als 70 Prozent der Schwedinnen sind erwerbstätig, Einverdienerfamilien sind die Ausnahme. Die schwedische Frauenbewegung kämpfte aktiv für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und setzte dabei vor allem auf die öffentliche Kinderbetreuung.
Doch auch in Schweden sind es die Frauen, die auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden und häufig in schlechter bezahlten Berufen tätig sind. Auch die häusliche Arbeitsteilung geht meist vor allem zu ihren Lasten. Im Jahr 2001 wurden nur 13,6 Prozent des Elterngeldes von Vätern in Anspruch genommen. An der Pflege kranker Kinder waren sie immerhin zu einem Drittel beteiligt. Bemerkenswert ist, daß schon im Jahr 2000 tatsächlich 74 Prozent der Männer die Vatermonate nutzen.
Feministische Linke
Mit Erfolg widmet sich besonders die schwedische Linke der sozialen Frage aus einer feministischen Perspektive. Vor zehn Jahren erklärte sich die schwedische Linkspartei (Vänsterpartiet) zur feministischen Partei. Mit offensiven Forderungen, beispielsweise nach einer gerechten Entlohnung von Frauenarbeit, konnte sie seit der historischen Zäsur von 1989/90 entgegen dem europäischen Trend ihren Zuspruch bei Wahlen verdoppeln. Mittlerweile kommen auch die anderen Parteien nicht mehr an der Frage der Geschlechtergerechtigkeit vorbei.
Der „Skandinavismus“ in der deutschen Familienpolitik muß dagegen heiße Luft bleiben, da er nicht die soziale Verfaßtheit der Gesellschaft insgesamt im Blick hat, sondern Menschen als Humankapital taxiert. Für Millionen Frauen und Männer fehlt für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hierzulande die Voraussetzung: existenzsichernde Arbeit. Zukunftsangst ist ein wesentlicher Grund, warum Menschen auf ein Leben mit Kindern verzichten.
Von Peter Steiniger. Quelle: https://www.jungewelt.de/2006/06-02/027.php