Aus der anhaltenden innenpolitischen Krise in Brasilien sind die konservativsten Sektoren siegreich hervorgegangen. Mit der am 31. August vollzogenen Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) konnte sich die Rechtsregierung von Michel Temer, bereits seit Mai übergangsweise im Amt, endgültig etablieren. Ihre neoliberale Agenda steht vollkommen im Gegensatz zu der von der Mehrheit der Wähler 2014 bestimmten.
Temers „Brücke in die Zukunft“ soll mit den bereits vielerorts gescheiterten Rezepten dieser Glaubenslehre – Deregulierung, Privatisierung, Sozialabbau – Brasilien wieder auf Wachstumskurs bringen. Das Land spürt die Folgen der globalen Finanzkrise, den Preisverfall des Öls, den gesunkenen Export von Rohstoffen und Agrarprodukten. Eine höhere Arbeitslosenrate und gestiegene Lebenshaltungskosten sind die Folge. Dies trifft auch die Millionen, die dank der Sozial- und Bildungsprogramme der PT-Regierungen von Lula da Silva und Dilma Rousseff der Armut entkommen und in die unteren Mittelschichten auf-steigen konnten. Infrastrukturelle Probleme der gewaltgeplagten Megastädte haben sich trotz oder wegen der Großprojekte für FIFA-WM und Olympische Spiele weiter verschärft. Vorausgegangen war ein versteckter und offener Machtkampf, der die Gesellschaft scharf polarisierte und die Institutionen des Staates erschütterte. Die rein politisch motivierte und juristisch nur zu durchsichtig bemäntelte Amtsenthebung von Rousseff wegen angeblich geschönter Haushaltszahlen stellte nichts anderes als einen parlamentarischen Staatsstreich dar.
Das Rollback der Linksregierungen in Lateinamerika hat eine weitere Etappe genommen. Nach einem ähnlichen Drehbuch war bereits 2012 im benachbarten Paraguay die Absetzung von Fernando Lugo inszeniert worden. Historische Parallelen finden sich zum Sturz von Joäo „Jango“ Goulart 1964, der zur Errichtung einer 21 Jahre währenden zivil-militärischen Diktatur in Brasilien führte. Damals wie heute kam den Medien der privaten Globo-Gruppe eine Schlüsselrolle als Taktgeber der Kampagne gegen die legitime Regierung und bei der Mobilisierung der Mittel- und Oberschichten gegen ein progressives politisches Projekt zu. Ihre unter dem Militärregime noch bedeutend ausgebaute Macht zur Manipulation der öffentlichen Meinung blieb auch danach unangetastet.
Belegt ist die fördernde Rolle Washingtons bei der Aushöhlung und Beseitigung der Demokratie in Brasilien. Die Vierte US-Flotte mit einem Operationsgebiet von der Karibik bis nach Südamerika, die 5964 den putschen-den Generälen Deckung gab, brauchte sich dieses Mal allerdings nicht bereit zu halten. 2008 war sie unter dem Südkommando der Navy reaktiviert worden, um gegenüber den progressiven Ländern der Region „vitale nationale Interessen“ der Vereinigten Staaten dort deutlich zu machen. Im Zeitalter „farbiger Revolutionen“ kommt der Einflussnahme durch kapitalstarke Thinktanks und von Stiftungen mit US-Hintergrund auf das politische Geschehen mehr Gewicht zu als Uncle Sams Kanonenbooten. Alles andere als abwegig ist es, auch einen Zusammenhang zwischen dem 2013 vom früherem NSA-Mitarbeiter Edward Snowden enthüllten US-Spionageangriff gegen die brasilianische Regierung und das Management von Schlüsselindustrien, insbesondere den Petrobras-Ölkonzern, und der seitdem einsetzenden wirtschaftlichen und. politischen Destabilisierung des Landes herzustellen.
Einseitig und willkürlich geführte Korruptionsermittlungen eng mit dem FBI verbandelter Beamter haben linke Politiker und selektiv auch Wirtschaftsführer im Visier. Nebenbei haben sie immensen ökonomischen Schaden bei Unternehmen verursacht und hunderttausende Arbeitsplätze vernichtet. Besonders betroffen ist der international tätige Baukonzern Odebrecht, beteiligt auch an der Errichtung des riesigen Containerhafens von Marie) in Kuba: Eine logistische Drehscheibe für Warenströme, die künftig einen Kanal in Nicaragua oder eine Bahntrasse für Güterzüge zwischen Atlantik und Pazifik als Route nutzen könnten, die dem US-kontrollierten Panamakanal starke Konkurrenz machen.
Eine „Lava Jato“-Taskforce zum traditionellen Filz von Politik und Petrobras vermengt die Aufgaben von Polizisten, Ermittlern und Richtern und ist zu einem Staat im Staat mit diktatorischen Zügen herangewachsen. Mit illegal aufgezeichneten Telefonaten der Präsidentin wurde von deren Chef Sérgio Moro, einem Bundesrichter und mittlerweile Star der Rechten aus Paraná, Politik gegen die PT-Staatsführung gemacht. Die Medien werden als vorverurteilendes Pranger benutzt. Verhaftungen dienen der Einschüchterung, Kronzeugenvereinbarungen und serielle Beschuldigungen werden mit exzessiver Beugehaft erpresst. Notorisch korrupte Granden der Rechtsparteien PMDB und PSDB bleiben trotz Aussagen und klarer Hinweise unbehelligt. Ob aus der Wirtschaft saubere Spenden in Parteikassen flossen oder illegal Wahlkampfkassen gefüllt wurden, hängt vom betroffenen politischen Lager ab.
Der „weiche Putsch“ von 2016 führte eine unsanfte politische Wende in Brasília herbei. Der wachsende soziale Protest trifft auf verschärfte Repressionsmaßnahmen. Die Arbeiterpartei und Expräsident Lula als deren weiter in der Bevölkerung populärer Führer sollen aus dem politischen Leben ausgeschaltet werden. Eine Entwicklung mit gravierenden Folgen auch für den außenpolitischen Kurs des südamerikanischen Riesenlandes. Wohin die Reise geht, machen zwei Personalien deutlich. Zum einen Präsident Michel Tennen von der meistbietend koalierenden PMDB, der als Rousseffs Vize eher protokollarischen Zwecken diente und sich mit den Wahlverlierern von 2014 gegen sie verschwor. Als Parteichef hielt er die US-Botschaft jahrelang über Interna der brasilianischen Politik auf dem laufenden. Zum anderen der neue Außenminister José Serra, namhafter Altpolitiker der Mitte-Rechts-Partei PSDB, der kein Geheimnis aus seiner Nähe zum Washingtoner Establishment macht.
Die zweifelhafte Legitimität der Temer-Regierung, eine Versammlung ausschließlich weißer reicher Männer, hat dem Ansehen Brasiliens in der Welt bereits Schaden zugefügt. Auf dem Spiel stehen die Ergebnisse einer Ära außenpolitischer Erfolge. Seit dem Amtsantritt von Lula da Silva 2003 war es Brasílias Anspruch, selbstbewusst und aktiv internationale Politik mit zu gestalten. Das vom US-Kapital vorangetriebene Amerikanische Freihandelsabkommen ALCA, von Venezuelas Präsident Hugo Chávez als „kolonialistisches Projekt“ verdammt, wurde auch durch Brasiliens Mitwirken auf Eis gelegt. Obwohl militärisch keine Supermacht, sollte seinem Gewicht als Land mit der fünftgrößten Bevölkerung und siebtgrößten Ökonomie Geltung verschafft werden. Erklärtes Ziel war es, zu einer neuen multilateralen Weltordnung beizutragen. Brasiliens Diplomatie betätigte sich als Vermittler in Südamerika und international, trug zur Entschärfung des Atomkonflikts mit dem Iran bei. Besonderes Gewicht erhielten die Beziehungen zu Afrika, auf dem schwarzen Kontinent wurden etliche Botschaften neu eröffnet. Die politische und wirtschaftliche Integration Lateinamerikas und der Karibik wurde in den Bündnissen UNASUL, MERCOSUR und CELAC mit vor-angetrieben. Nicht zuletzt wurde Brasilien als Bestandteil der BRICS-Staaten, die politische Zusammenarbeit mit China, Indien, Russland und Südafrika, von der Weltöffentlichkeit wahrgenommen.
Der jetzige Chefdiplomat hat eine Neuausrichtung der Außenpolitik Brasiliens verkündet. Besonders gegenüber Venezuela unter dem Sozialisten Nicolás Maduro ist ein klarer Feindkurs erkennbar. Ebenso gibt es Ansätze zu einer neuen Blockbildung. Die rechtsgerichteten Regierungen Argentiniens und Paraguays zählen zu den ersten, die keine Berührungsängste mit der Temer-Regierung kennen. „Traditionellen Partnern“, insbesondere den USA, wird von Serra der rote Teppich ausgerollt. Enger will man sich auch mit Japan und den EU-Staaten stellen. „Nationale Interessen“ sollen fortan die Wege der Diplomatie leiten. Darunter werden vor allem wirtschaftliche verstanden. Brasílias Abgesandte sollen für heimische Unternehmer Klinken putzen. Märkte erschließen und den Abbau von Handelshemmnissen vorantreiben. Anfang Oktober verabschiedete das Parlament ein neues Gesetz, welches Öl-und Gasvorkommen vor Brasiliens Küste (PreSal) ausländischem Kapital zugänglich macht, ohne dass Petrobras als Betreiberin der Förderstätten länger seine Finger mit im Spiel haben muss. Besonders US-Konzerne haben seit längerem ihre Fühler nach Brasiliens Bodenschätzen ausgestreckt. Die linke Opposition spricht von einem „Ausverkauf öffentlichen Eigentums“. Die BRICS als potentieller Gegenpol zum US-geführten Westen werden durch Brasiliens neuen Kurs politisch geschwächt. Ohnehin bilden sie eine heterogene Gruppe und ökonomisch bleiben sie vielfältig aufeinander angewiesen Insbesondere mit China ist Brasilien durch gemeinsame Infrastrukturprojekte und als Abnehmer seiner Rohstoffe langfristig verbunden. Temers Privatisierungspläne dürften auch im Reich der Mitte aufmerksam gehört worden sein. Bereits als Interimspräsident wurde er von der chinesischen Diplomatie hofiert. Am Rande des G-20-Treffens im chinesischen Hangzhou Anfang September, Temers internationalem Debüt als Staatschef, wurden die engen bilateralen Beziehungen betont und mehrere Verträge der wirtschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet.
Von Peter Steiniger, erschienen in: Marxistische Blätter, Ausgabe 5, 2016, S. 19-21, Link