Zum Inhalt springen

Brot und Spiele

Das Rennen um die Amtsenthebung von Dilma Rousseff ist noch nicht ganz gelaufen. Erst nach den Olympischen Spielen vom 5. bis 21. August in Rio de Janeiro entscheidet der Senat, das Oberhaus des brasilianischen Parlaments, ob aus der vorläufigen Amtsenthebung der Präsidentin von der Arbeiterpartei (PT) eine endgültige wird. Dass am ohnehin sorgengeplagten Austragungsort neben den sportlichen auch politische Auseinandersetzungen stattfinden, wird dennoch nicht ausbleiben.

Die Polarisierung der Gesellschaft und der massive Widerstand gegen die per institutionellem Putsch ans Ruder gelangte Regierung in Brasília werden sich vor den Augen der Welt nicht verbergen lassen. Trotz der 85.000 Sicherheitskräfte, die zum Großereignis aufgeboten werden. Schon das offizielle Protokoll ist brisant. Der heikelste Punkt: Wohin mit Dilma Rousseff? Eine „konfuse Situation“ nennt es Mario Andrada, der Sprecher des Organisationskomitees Rio 2016. Nach informellen Gesprächen will man eine elegante Lösung gefunden haben. Rousseff soll bei der Eröffnung der Spiele an der Seite der früheren Präsidenten Lula da Silva, Fernando Collor und José Sarney Platz nehmen, obwohl das Komitee wisse, dass sie als Staatschefin formell nicht „ex“ sei. Sollte sich Temer, der aus guten Gründen seinen Palast nicht gerne verlässt, dorthin trauen, wird er den Sitz neben dem Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Thomas Bach, exklusiv haben. Eine zweifelhafte Ehre für letzteren.

UnbenanntAuf der Zielgeraden bleibt für Interimsstaatschef Michel Temer noch einiges zu tun. Er bewegt sich dabei in Geschäften, in denen er sich gut auskennt. Um den Rechtsruck personell zu untersetzen und die nötige Zweidrittelmehrheit im Senat sicherzustellen, werden im großen Stil Posten im Staatsapparat und bei öffentlichen Unternehmen verteilt oder neu besetzt. Senatoren melden Wunschlisten für ihre Klientel an. Der heikelste Punkt auf Temers Liste ist aber noch ungelöst: Wohin mit Eduardo Cunha? Der Spiritus rector des Putsches wurde als Parlamentspräsident suspendiert. Der Gebieter über schwarze Kassen, die den Politikbetrieb schmieren, steht mit einem Bein im Knast und muss um sein Abgeordnetenmandat fürchten. Fällt er nicht sanft, dürfte er etliche Volksvertreter aus Temers Lager mit sich reißen. Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot möchte den Spitzen von Temers Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) ohnehin gern Handschellen wegen Korruption und Behinderung der Justiz anlegen.

Wer Spiele ausrichtet, muss auch Brot verteilen. Zumal die Position der Temer-Regierung ungefestigt ist und die Zustimmungswerte in der Bevölkerung unterirdisch sind. Magere 13 Prozent beurteilen sie positiv. Um satte 12,5 Prozent werden zum 18. Juli die Rationen heraufgesetzt. Damit steigen die Beihilfen für die Ärmeren aus dem Programm „Bolsa Familia“ stärker, als bereits von Rousseff angekündigt. Zugleich berät sich Temer mit dem Militär und dem Geheimdienst, dessen Kompetenzen er ausweitet, über seinen Plan B, lädt Unternehmer ein, die seine Wirtschaftspolitik gutheißen. Geplant wird auf lange Sicht. Sein Finanzminister Henrique Meirelles spricht, ungeachtet regulär 2018 anstehender Präsidentschaftswahlen, von einer Strategie für die kommenden zehn Jahre. Eine Deckelung der wichtigsten Staatsausgaben soll sogar für zwei Jahrzehnte im voraus festgeschrieben werden. Dies würde die Bereiche Soziales, Gesundheit und Bildung verheerend treffen. Das Rentenalter möchte Temer auf bis zu 70 Jahre heraufsetzen. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 72,5 Jahren bedeutete dies in vielen Fällen Arbeit bis zum Tod. Die Höhe der Altersversorgung will der momentane Wohltäter von der Entwicklung der staatlichen Mindestlöhne abkoppeln. Natürlich nach unten.

Nach den Anhörungen von Zeugen und Experten im Senat zu den ihr formal vorgeworfenen Bilanztricks sieht sich die Verteidigung von Rousseff gestärkt. Ob es aber tatsächlich gelingt, mehr als die 22 Senatoren zu gewinnen, die bereits bisher gegen die Absetzung der Präsidentin stimmten, ist fraglich.

Von Peter Steiniger, erschienen in: junge Welt vom 05.07.2016, S.7, Link

Kommentar verfassen