Eine „praktische Mitarbeit“ nehmen auch im Land am Zuckerhut viele Unternehmen nur allzu wörtlich. Praktika, eigentlich als Training vor dem Einstieg in den Arbeitsmarkt gedacht, werden massenhaft mißbraucht, um prekäre Beschäftigung zu verschleiern. Gewerkschaften und Studentenbewegung fordern deshalb seit Jahren die Festlegung arbeitsrechtlicher und sozialer Standards. Dem versucht das jetzt von Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva in Kraft gesetzte „Gesetz über die Praktika“ (Lei dos Estagiários) gerecht zu werden. Es sieht eine zeitliche Befristung auf maximal zwei Jahre vor. Praktikanten erhalten Anspruch auf dreißig Tage bezahlten Urlaub im Jahr sowie auf die Erstattung der Fahrtkosten zum Arbeitsplatz. Sie sind gegen Unfälle zu versichern. Anbieter von Praktika müssen den Bildungseinrichtungen Rechenschaft ablegen und die Betreuung durch Ausbilder gewährleisten.
Millionen betroffen
Erstmals geregelt wird, in Abhängigkeit von der Betriebsgröße, die Zahl der zulässigen Praktikantenstellen. Im Verhältnis zum Stammpersonal darf diese zwanzig Prozent nicht überschreiten. Die Arbeitszeit wird auf sechs Stunden täglich und dreißig in der Woche begrenzt. Zugleich wird freien Berufen – wie Rechtsanwälten, Ingenieuren und Architekten – neuerdings die Beschäftigung von Praktikanten gestattet. Menschen mit Behinderungen sollen zehn Prozent aller Praktikumsstellen vorbehalten sein. Die Unternehmen müssen bei neuen oder verlängerten Praktika den geänderten Vorschriften Rechnung tragen. Bei Verstößen kann die Beschäftigung von Praktikanten für die Dauer von zwei Jahren untersagt werden.
Nach Angaben der Brasilianischen Vereinigung für Praktika, ABRES (Associação Brasileira de Estágios), sind landesweit Millionen Menschen von den Neuregelungen betroffen. Dazu zählen 715000 Studierende und 385000 Besucher von Mittelschulen, die derzeit ein Praktikum absolvieren. Die brasilianischen Presse sieht in dem neuen Gesetz einen sozialpolitischen Durchbruch. Kommentatoren weisen allerdings darauf hin, daß die Begrenzung der Arbeitszeiten zu einer noch niedrigeren Entlohnung dieser Gruppe als bisher schon führen dürfte. Kleinere Unternehmen beklagen, daß sie nur noch die Mitarbeit weniger Praktikanten in Anspruch nehmen dürfen.
Als positiven Schritt wertet Quintino Severo, Generalsekretär des größten gewerkschaftlichen Dachverbandes CUT (Central Única dos Trabalhadores), das neue Gesetz. Es stelle klar, was unter einem Praktikum zu verstehen sei und werte es qualitativ auf. Es würde jene „falschen Praktikantenstellen“ verhindern, erklärte der Gewerkschaftschef, welche in Wirklichkeit reguläre Arbeitsplätze verdrängen.
Prekäre Jobs, getarnt als Praktika, sind für viele junge Brasilianer oftmals der einzige Weg, um sich während einer Ausbildung oder überhaupt über Wasser zu halten. Das neue Recht kann das Leben der „Generation Praktikum“ erleichtern – dort, wo es vertragliche Regeln gibt. Millionenfach vollzieht sich Ausbeutung – auch von Kindern und Jugendlichen – aber verdeckt. Danuza Magalhães, Lehrerin an einer öffentlichen Schule in Itapemirim im Bundesstaat Espirito Santo schildert gegenüber jW das Problem: „Die Verstädterung nimmt zu, aber die Wirtschaft wächst nicht mit. Sogenannte Praktika bieten nur große Unternehmen, wie die Wasserwerke oder Verkehrsbetriebe. Das sind harte Vollzeitjobs zum halben Lohn. Meist ohne Vertrag und Garantien.“
Verdeckte Erwerbslosigkeit
Die Jugendlichen hätten keine Perspektiven, so Magalhães. „Die Einkommen der Familien reichen oft nicht aus. Manche Jungen unter 15 Jahren kommen nur zu den Abendkursen, weil sie tagsüber bei der Zuckerrohrernte, als Fischverkäufer oder Obsthändler arbeiten. Viele Schüler, auch sehr talentierte, erreichen nicht einmal einen Realschulabschluß, weil sie jobben müssen.“
Brasilien nimmt weiter weltweit einen Spitzenplatz bei der Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen ein. Im fünftgrößten Land der Erde ist Kinderarbeit weit verbreitet, vegetieren Millionen Gelegenheitsarbeiter ohne Rechte und soziale Absicherung. Die offizielle Arbeitslosenrate von 8,2 Prozent täuscht über eine gespaltene Arbeitswelt hinweg. Das Einkommen jedes zweiten Brasilianers beträgt nicht mehr als 714 Reais (umgerechnet etwa 250 Euro) monatlich. Jeder Zehnte muß sogar mit weniger als dem gesetzlichen Mindestlohn von 415 Reais auskommen.
Von Peter Steiniger, Brasília. Tageszeitung junge Welt, 02.10.2008, S.9, https://www.jungewelt.de/2008/10-02/037.php