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Rechts vor Links

Sie überstrahlt fast alles am blau-gelben Himmel, und doch gibt es in Stockholm Brisanteres als die bevorstehende „Traumhochzeit“ von Kronprinzessin Viktoria mit dem Geschäftsmann Daniel Westling. Die politische Debatte beim skandinavischen Nachbarn prägen vier Monate vor den Wahlen zum neuen Reichstag die ökonomische Entwicklung und besonders die Lage auf dem Arbeitsmarkt.

Auch wenn sich die schlimmsten Befürchtungen bisher nicht bewahrheiteten: Die globale Rezession hat die Exportnation Schweden mehr als nur gestreift. Drei Viertel der Ausfuhren gehen in europäische Länder. Vor allem in der Fertigungsindustrie, im Energiesektor und im Automobilbau gingen viele Arbeitsplätze verloren. Das Land ist einer der bedeutendsten Investoren im Baltikum. Schwedische Kreditinstitute verhoben sich dabei mit milliardenschweren Hypotheken und Krediten in den Finanzsektoren von Estland, Lettland und Litauen.

Talsohle durchschritten

Nach Berechnungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, ging Schwedens Bruttonationaleinkommen (BNE) im Jahr 2009 um 5,1 Prozent zurück. Für das laufende Jahr rechnet man dort mit einer Erholung der Wirtschaftsleistung des Landes um 1,6 Prozent und mit einem Plus von 3,2 Prozent für 2011. Die Turbulenzen im Euroraum haben auch die schwedische Krone gegenüber dem Dollar geschwächt. Dennoch sieht Finanzminister Anders Borg sein Land als einen „Lichtpunkt im europäischen Unwetter“, mit „mehr Sicherheit und Stabilität“. Borg ist einer der Strategen in der bürgerlichen Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt von der Moderaten Sammlungspartei. Zu dieser Stabilität trägt auch bei, daß Schweden dank einer weiterhin relativ starken Umverteilung über Sozialtransfers auch über eine hohe Binnenkaufkraft verfügt.

Getrübt wird dieser Glanz durch die neuesten Arbeitslosenzahlen. Das Statistische Zentralbüro, SCB, ermittelte für den April eine Quote von 9,8 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung. Damit können offiziell 483000 Menschen derzeit keiner Erwerbstätigkeit nachgehen und das mit steigender Tendenz. Jeder Dritte davon bereits länger als ein halbes Jahr. Die leicht positive Entwicklung bei der Zahl der Beschäftigten insgesamt ist vor allem auf die Zunahme von Zeitarbeit und Gelegenheitsbeschäftigungen zurückzuführen. Besonders dramatisch ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Von den 190000 Betroffenen bis zu 24 Jahren haben 80 Prozent keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung und sind so auf Sozialhilfe angewiesen.

Arbeit hat Priorität

Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat sich die neue linke Wahlallianz aus Sozialdemokratischer Arbeiterpartei (SAP), Linkspartei und Grünen ganz oben auf die Agenda geschrieben. Die Linkspartei betritt mit dieser politischen Hochzeit Neuland: Sie ist nun bereit, bei einem Wahlerfolg in eine rot-grüne Regierung unter der SAP-Vorsitzenden und Ex-Umweltministerin Mona Sahlin einzutreten. Das Linksbündnis verspricht, in die Sektoren Transport, Erneuerbare Energien und Umwelt zu investieren. Bis 2021 sollen allein umgerechnet 10 Milliarden Euro in neue Hochgeschwindigkeitsverbindungen auf der Schiene gesteckt werden. Vermögens- und Immobiliensteuer sollen wieder eingeführt und 40000 neue Ausbildungsplätze geschaffen werden. Besserverdiener würde Rot-Grün höher veranlagen, Arbeitslose und Rentner steuerlich entlasten.

Führte die Opposition vor einem Jahr noch mit einem deutlichen Vorsprung von 18 Prozent in den Meinungsumfragen, scheint sich das Blatt nun gewendet zu haben. Die „Allianz für Schweden“, das regierende Bündnis aus Zentrumspartei, Christdemokraten, Volkspartei und Moderaten, liegt nun mit 48,3 Prozent gegenüber 46,5 Prozent vor den Herausforderern. Die Allianz verspricht Steuersenkungen und ebenfalls Investitionen in die Infrastruktur. Im August will sie ein gemeinsames Wahlmanifest vorlegen. Angesichts der Schuldenkrise im restlichen Europa und der weltweiten Krise, ist es der Opposition bisher nicht wie beabsichtigt gelungen, Reinfeldt beim Wahlvolk zum Hauptverantwortlichen der Beschäftigungsmisere zu machen.

Mit der Schaffung eines liberal-konservativen Blocks und einer medialen Inszenierung der Konservativen als „neuer Arbeiterpartei“, die den Kampf um Vollbeschäftigung führe, hatte Reinfeldt 2006 die Sozialdemokraten von der Macht abgelöst. Zwar verzichtete er auf offen neoliberale Ordnungskonzepte, dennoch ist die soziale Kluft im Wohlfahrtsstaat dank seiner Reformen größer geworden. Seine Regierung öffnete den Gesundheitssektor für das private Kapital, veräußerte Staatsunternehmen und erhöhte den Druck auf Erwerbslose durch Absenkung der Höhe und Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes. Ab 2013 plant die Allianz weitere Umstrukturierungen von Arbeitslosen- und Krankenversicherung. Besonders die Liberale Volkspartei drängt darauf, daß die bisher von den Gewerkschaften geführten Arbeitslosengeldkassen in staatliche Hand kommen.

Von Peter Steiniger. Quelle: https://www.jungewelt.de/2010/06-01/014.php

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