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Ritt auf dem Pulverfass

Wer ist der nächste? Wenige Monate vor Beginn der Olympischen Spiele von Rio de Janeiro hat Brasiliens amtierende Regierung unter Michel Temer nicht gerade einen Traumstart hingelegt. Als erster fiel sein Planungsminister Romero Jucá auf die Nase.

Nachdem die Zeitung Folha de São Paulo den ihr zugespielten Mitschnitt eines Gesprächs zwischen Jucá und dem Manager des Ölkonzerns Petrobras Sérgio Machado veröffentlicht hatte, musste dieser am vergangenen Dienstag, nach nur zwölf Tagen, das Feld räumen. Jucá gehört wie Temer der rechtsliberalen „Partei der Demokratischen Bewegung“ (PMDB) an und war einer der eifrigsten Befürworter des Ende März erfolgten Bruchs mit der Arbeiterpartei (PT) und der Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsidentin Dilma Rousseff.

Der politische Betrieb erscheint in diesem Mitschnitt als der einer Bananenrepublik. Und die Aufnahme belegt vor allem, dass der Machtwechsel in Brasília das Ergebnis einer Verschwörung zum Staatsstreich ist. In einem Regierungswechsel sieht Jucá laut diesem Gespräch, das bereits im März stattfand, die einzige Chance, das „Ausbluten“ seiner Politikerkaste infolge der Korruptionsermittlungen der „Operation Lava Jato“ zu den Skandalen um Petrobras und den Baukonzern Odebrecht zu stoppen. Nur dann würde auch der Druck der Presse aufhören. Gegen beide Gesprächspartner laufen Verfahren wegen Korruption. Der damalige Senator Jucá spricht von einem schützenden „nationalen Pakt“. Die meisten Richter des Obersten Gerichts und die Militärführung würden eine erzwungene Ablösung von Rousseff durch Temer decken. Der nahm Jucá nun rasch aus der Schusslinie. Wären dessen Aussagen zu einem früheren Zeitpunkt öffentlich geworden, hätten die Betreiber des „Impeachments“ ziemlich alt ausgesehen. Nun sind sie ein Schlag ins Kontor der neuen Machthaber, die sich als rechtmäßig darstellen wollen. Außenminister José Serra instruierte die brasilianischen Diplomaten in aller Welt, die Regierung Temer gegen die „Putschthese“ zu verteidigen.

UnbenanntWenig später ging die nächste Bombe aus dem Arsenal Machado hoch. Diesmal machte eine mitgeschnittene Unterredung mit dem Senatspräsidenten Renan Calheiros Schlagzeilen, die weitere Details der Intrige preisgibt. Für den PMDB-Politiker, gegen den in mehreren Schmiergeldfällen verhandelt wird, zieht sich die Schlinge immer rascher zu. Am selben Tag wurde bekannt, dass Machado mit der Justiz einen Deal über eine erhebliche Strafmilderung gegen Aussagen gemacht hat. Diese Seite scheint ihm gegenüber der der Aristokraten von PMDB und konservativer PSDB, die in den Aufzeichnungen sämtlich belastet werden, das festere Ufer. Denn die „Operation Lava Jato“ ist längst zum Staat im Staat geworden. Dabei hat die Justiz keineswegs eine weiße Weste, sie ist ebenso käuflich, elitär und traditionell rechtslastig wie die eigentliche politische Klasse. Doch schon aufgrund des tief verwurzelten Klientelismus sind dort viele angreifbar. Bisher bekam dies vor allem die PT zu spüren. Durch Kronzeugenregelungen entsteht allerdings eine schwer kontrollierbare Kettenreaktion mit immer weiteren Beschuldigten. Temer selbst und mindestens sieben korrupte Minister in seinem Kabinett können nur dank ihrer Immunität noch ruhig schlafen.

Das hinter Temer versammelte Lager ist instabil. Trotz der neoliberalen Agenda seiner Regierung – mit Privatisierungen, Kürzungen bei Sozialprogrammen und bei den Ausgaben für Gesundheit und Bildung – muss einer weiterblickenden Kapitalfraktion klar sein, dass mit diesem Personal kein Staat zu machen ist. Allesamt sind es verbrauchte und diskreditierte Figuren. Sie verkörpern geradezu den „Faktor Brasilien“, die entwicklungshemmenden, bürokratischen und kostentreibenden Defizite, deren Ursachen lange vor der historisch kurzen PT-Ära zu suchen sind. Auf den Straßen Brasiliens wächst der Druck. Die nationale Leitung des größten Gewerkschaftsdachverbandes CUT gab bekannt, dass an einem breiten Bündnis für einen Generalstreik gearbeitet wird. „Der Putsch richtet sich gegen dich, Arbeiter, gegen deine Rechte!“ appelliert sein Exekutivdirektor Julio Turra in einer Botschaft an die Basis. Für den 10. Juni haben die linken sozialen Bewegungen in allen Metropolen des Landes zu Großdemonstrationen gegen die Temer-Regierung aufgerufen. Die Lunte brennt.

Von Peter Steiniger, erschienen in: junge Welt vom 28./29.05.2016, S.6, Link

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