Kubas Ökonomie steht das Wasser bis zum Hals. Eine Reihe äußerer Faktoren ließ den Pegel steigen: Hurrikans mit Milliardenschäden im Jahr 2008, die globale Finanzkrise, höhere Preise für Nahrungsmittel- und Ölimporte, rückläufige Entwicklung im Tourismus und bei Geldtransfers von Emigranten.
Nach Wachstumsraten von durchschnittlich 6,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) seit 2001 fiel der Zuwachs 2009 mit 1,4 Prozent bescheiden aus. Noch drastischer schlagen der Rückgang des Außenhandelsvolumens (2008: minus 38 Prozent) und eine negative Handelsbilanz zu Buche. Das Staatsdefizit lag im Vorjahr bei 4,3 Prozent, Liquiditätsengpässe schränken Havannas Handlungsspielräume empfindlich ein.
Die Krisensymptome verweisen auf strukturelle, aber auch systembedingte Mängel der kubanischen Volkswirtschaft. Auf den Dienstleistungssektor entfallen 76 Prozent des BIP. In den Staatsbetrieben ist die Produktivität niedrig, die technologische Basis häufig verschlissen. Der einstige Agrarexporteur erzeugt heute nur etwa 40 Prozent der im Land verbrauchten Lebensmittel selbst. Der Zuckerrohranbau hat einen historischen Tiefstand erreicht. Vor allem deshalb machen landwirtschaftliche Erzeugnisse nur noch etwa 16 Prozent aller Exportgüter aus. 1991 waren es 83 Prozent. Das Gros des Außenhandels verteilt sich auf nur wenige Partner, vor allem Venezuela, China, Rußland, Angola, Vietnam und den Iran. Die geringe Diversifizierung könnte Kuba verwundbar machen wie nach dem Untergang der Sowjetunion, warnt der Ökonom Omar Everleny von der Universität Havanna.
Umbau der Wirtschaft
Die von Präsident Raúl Castro im August vor der Volkskammer angekündigten „Anpassungen am sozialistischen Modell“ beinhalten einschneidende Maßnahmen, um wirtschaftliche Dynamik, Kreditwürdigkeit und finanzielle Stabilität zurückzugewinnen. Der Sparkurs wird fortgeführt. Und es geht ans Eingemachte: Im staatlichen Sektor soll in den nächsten Jahren die Scheinbeschäftigung massiv reduziert werden. Bis zu eine Million Stellen sind betroffen– jeder fünfte Arbeitsplatz im Land. Die Freigesetzten erhalten ein Angebot im Bauwesen oder in der Landwirtschaft. Wer das ablehnt, soll sich im privaten Sektor, der einmal auf 40 Prozent anwachsen soll, einen Job suchen oder schaffen.
Etliche Reglementierungen sollen fallen. Erstmals dürfen in Handwerk und Gewerbe Private Arbeitskräfte anstellen. Genossenschaften, Kleinunternehmen und Selbständigen wird in ausgewählten Berufen gestattet, „Arbeit auf eigene Rechnung“ auszuführen. Für diese müssen sie dann Steuern und Sozialabgaben entrichten. Offen bleibt, wie diese Kleinunternehmer und Freiberufler, die sogenannten Cuentapropistas, zu den für ihre Arbeit nötigen Produktionsmitteln und Materialien kommen.
Landesweit wird der neue Kurs in Versammlungen bekanntgemacht. Die „Liste von Aktivitäten, deren Ausführung auf eigene Rechnung gebilligt wird“, führt stolze 124 Berufe auf. Die Aufzählung reicht vom Instrumentenstimmer über den Wasserträger bis zum Chauffeur von Leihwagen. Maurer, Tischler, Elektriker und Uhrmacher sollen künftig ebenso auf eigene Rechnung arbeiten wie Tapezierer, Töpfer und Korbflechter. Mit von der Partie sind Friseure, Kunsthandwerker und Fotografen, Schreibkräfte, Babysitter, Sprachlehrer und Übersetzer. Verselbständigen dürfen sich Ponyverleiher (nur für Kinder), Palmblattpflücker, Dompteure, Parkplatzwächter, Steuereinnehmer, Bauchladeninhaber, und selbst der Llenador (Feuerzeugnachfüller) fehlt nicht.
Informeller Sektor
In die eigene Tasche wird in Kuba längst allerorten gewirtschaftet, wenn auch ohne Rechnung. Viele Waren und Dienstleistungen sind nur „schwarz“ erhältlich. Der ökonomische Kollaps nach dem Ende der lebenswichtigen Verbindung zu den RGW-Staaten (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) und die folgende „Spezialperiode“ haben schwerwiegende ökomomische Defekte hinterlassen: Die Löhne und legalen Einkünfte liegen unter dem zum Leben Notwendigen. Zwar stiegen die vom Staat gezahlten Monatseinkommen bis 2009 auf durchschnittlich 427 Pesos (umgerechnet 15 bis 16 Euro). Doch gemessen an der Preisentwicklung waren die Realeinkommen in den letzten fünf Jahren rückläufig. Nur das Bezugssystem für rationierte Grundnahrungsmittel bewahrt viele Familien vor echter Not.
Privilegiert sind diejenigen, die Mangelwaren abzweigen können oder unter der Hand Provisionen einstreichen. Auch, wer mit Zuwendungen durch Verwandte im Ausland rechnen kann, muß sich nicht krumm machen. Etwa zwei Millionen Kubaner haben seit der Revolution 1959 ihr Land verlassen. 2004 wurde die Parallelwährung Peso Convertible (CUC) eingeführt, um den US-Dollar abzulösen. Außerhalb der Tourismusbranche gibt es kaum legale CUC-Einkünfte. In den Wechselstuben können CUC zum Kurs 1,08 Dollar bzw. 25 Pesos getauscht werden. Viele Lebensmittel und Konsumgüter sind nur gegen CUC und zu Märchenpreisen erhältlich. Harte Einfuhrbestimmungen flankieren das Handelsmonopol des devisenklammen Staates.
Kleine Schritte
Trotz manch positiver Entwicklung etwa im Bausektor, in Tourismus und Transportwesen kann Kubas Sozialismus gegenwärtig seinen Ansprüchen nicht gerecht werden. Eine vielbeklagte Doppelmoral hat sich breit gemacht. Fehlende Perspektiven, tausend Widrigkeiten des Alltags, Wohnungsnot und Propagandaeintopf lähmen den Enthusiasmus. Der Exodus Jüngerer und höher Qualifizierter auf der Suche nach einem besseren Leben beraubt das Land intellektueller Kapazitäten.
Mit dem Amtsantritt von Rául Castro 2006 hat indes ein pragmatischer Politikstil Einzug gehalten. An die Stelle schnell verpuffender Kampagnen trat die Suche nach echten Lösungen. Explizit betont er die Bedeutung der Durchsetzung von Normen und Regeln im staatlichen Handeln. Korruption, Privilegien- und Vetternwirtschaft werden als ernstes Problem angegangen. In diesem Kontext steht auch die Schaffung eines zentralen Rechnungshofes als neuer Kontrollbehörde. Die größte Herausforderung bleibt, Löhne und Preise in ein Verhältnis zu bringen, das allen Arbeitenden die Existenz sichert.
Peter Steiniger, Havanna
Veröffentlicht in junge Welt, 25.09.2010, Nr.224, https://www.jungewelt.de/2010/09-25/037.php