Politische Mathematik hat ihre eigene Logik. Davon ausgehend, hat Portugals Staatspräsident Aníbal Cavaco Silva am Donnerstag abend in Lissabon den bisherigen Ministerpräsidenten Pedro Passos Coelho zum Wahlsieger erklärt und erneut mit der Regierungsbildung beauftragt. Dessen Mitte-rechts-Bündnis PàF war aus der Abstimmung am 4. Oktober mit 38,6 Prozent der Stimmen als stärkste Kraft hervorgegangen. Gleichzeitig waren die darin zusammengeschlossenen Parteien, die PSD von Passos sowie ihr kleinerer konservativer Koalitionspartner CDS-PP, deutlich hinter dem Ergebnis von 2011 zurückgeblieben. Mit nur 107 der 230 Abgeordneten verloren sie ihre absolute Mehrheit im Lissaboner Parlament. Die Wahlbeteiligung hatte mit 57 Prozent einen historischen Tiefpunkt erreicht. Verhandlungen mit den Sozialisten (PS) über die Unterstützung einer Minderheitsregierung waren gescheitert, auch Passos’ Aufforderung zur Bildung einer großen Koalition lehnten diese ab.
Unter der Führung von Passos Coelho war Portugal, das am Rande eines Staatsbankrotts stand, einem drastischen Spar- und Privatisierungskurs mit tiefen sozialen Einschnitten unterworfen worden. Hunderttausende wählten aus wirtschaftlichen Gründen den Weg in die Emigration. Nun soll Passos eine Minderheitsregierung anführen, obwohl der PS-Bewerber um das Amt des Kabinettschefs, der frühere Lissaboner Bürgermeister António Costa, dem Präsidenten vorrechnen konnte, dass die Sozialisten und die linken Parteien, der plurale Linksblock BE und die von den Kommunisten (PCP) geführte Allianz CDU, mit zusammen 121 Sitzen die Mehrheit in der Assembleia da Repúblika haben.
Der konservative Ökonom Cavaco Silva zählt darauf, dass Costas innerparteiliche Gegenspieler und Abgeordnete vom rechten Flügel der Sozialisten eine Ablehnung des Regierungsprogramms der Mitte-Rechts-Koalition und so ihren sofortigen Sturz verhindern. In diesem Fall wären wohl auch die Tage von António Costa als PS-Generalsekretär gezählt. Costa war erst im Herbst 2014 per Mitgliederentscheid in dieses Amt gekommen und zum Spitzenkandidaten für die Parlamentswahl bestimmt worden. Mindestens 15 PS-Abgeordnete werden zu den „Seguristas“, den Anhängern seines Vorgängers als Parteichef, António José Seguro, gezählt. Costa hatte sich nach der Wahl überraschend offen für Vorschläge von BE und PCP gezeigt, gemeinsam die Rechte an der Regierung abzulösen. Eine solche Zusammenarbeit hat es auf nationaler Ebene nach der Nelkenrevolution 1974 nicht mehr gegeben. Seit Jahrzehnten lösen sich die Sozialisten und die Rechte an der Macht ab, die Tolerierung von Minderheitsregierungen des anderen Lagers eingeschlossen. Auf der Linken stand insbesondere die PCP der PS stets skeptisch gegenüber, der sie vorwirft, rechte Politiken mitzutragen und selbst zu praktizieren. Die PS war mit dem Versprechen zur Wahl angetreten, den Sparkurs abzumildern.
Rechenkünstler Cavaco richtete nun einen schon dramatisch zu nennenden Appell an die Mitglieder des Parlaments, einen Machtwechsel zu verhindern. Die Abgeordneten sollten „die höheren Interessen Portugals“ bei ihren Entscheidungen einbeziehen. Es ginge darum, dass dessen Regierung „voll und ganz die Aufgaben erfüllen kann, die ihr obliegen“. Einer von links gestützten PS-Regierung erteilte er eine klare Absage. In vierzig Jahren Demokratie sei noch nie ein Kabinett von „antieuropäischen politischen Kräften“ abhängig gewesen. Den Linkskräften warf er vor, die Abkommen mit Brüssel und der Troika sowie den Verbleib des Landes in der Euro-Zone in Frage zu stellen und sogar für eine Auflösung der NATO einzutreten. Einer Organisation, zu deren Gründungsmitgliedern Portugal zählte, wie Cavaco hervorhob. Das war allerdings zu weniger demokratischen Zeiten, wie er nicht anmerkte. Die Zukunft Portugals jenseits von EU und Euro wäre „katastrophal“, warnte Cavaco.
Von Peter Steiniger, erschienen in: junge Welt vom 24. Oktober.2015, S.7, Link