Brasiliens Senat hat für die Regierung von Michel Temer das große Wunschkonzert gespielt. Am Dienstag stimmten 53 Mitglieder des Oberhauses der Verfassungsänderung PEC 55 zu, bereits 49 hätten genügt. Mit der Novelle wird für maximal die kommenden zwei Dekaden, mindestens aber neun Jahre, der Zuwachs der Staatsausgaben auf die Höhe der Inflationsrate des jeweiligen Vorjahres begrenzt.
Für die Masse der Bevölkerung ist das eine grausam klingende Zukunftsmusik. Unter die Regel fallen auch die Ausgaben für den Gesundheitssektor und den Bildungsbereich. Bei einer wachsenden Bevölkerung ist eine weitere dramatische Verschlechterung der Situation nun programmiert. Kürzungen in Milliardenhöhe stehen an. 16 Senatoren stimmten gegen die Vorlage, darunter die der Arbeiterpartei (PT), die Kommunistin Vanessa Grazziotin und auch drei, die Temers Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) angehören. Der Ausgang war der erwartbare, die erste der zwei vorgeschriebenen Abstimmungen ging am 29. November bei höherer Beteiligung mit 61 zu 14 Stimmen allerdings noch klarer aus. Die Deputiertenkammer, das Unterhaus, hatte das Gesetz bereits passiert.
Die Verabschiedung des zentralen Projekts der seit sieben Monaten am Ruder befindlichen Rechtsregierung war zwischenzeitlich dennoch gefährdet. Bevor man Brasiliens Armen das Fell über die Ohren ziehen konnte, musste die Haut von Senatspräsident Renan Calheiros gerettet werden. In der vergangenen Woche war dieser als Angeklagter in einem Verfahren wegen Geldwäsche und Veruntreuung von einem Richter des Obersten Bundesgerichts (STF) vom Amt suspendiert worden. Nach einem von ganz oben unterstützten zweitägigen Machtkampf des Senats mit der Judikative und der anschließenden Annullierung der Order durch die Mehrheit des STF konnte der Zeitplan eingehalten werden und Calheiros als Temers Zeremonienmeister weitermachen.
Die brenzlige Lage im Land treibt zur Eile. Nach dem erfolgreichen Komplott zum Sturz der gewählten Präsidentin Dilma Rousseff von der PT geht die wirtschaftliche Talfahrt unvermindert weiter. Der Ölpreis stagniert, der Exportsektor bleibt schwach. Die Brasilianer bekommen die Krise durch Teuerung und den Verlust von Arbeitsplätzen zu spüren. Das angebliche Wundermittel der Haushaltsbremse, das in Brasilien nach Umfragen nur wenige Gläubige findet, soll nun die Wende zum Besseren bewirken. Temer lobte die Senatsentscheidung als einen Schritt, um das Land aus der Rezession zu holen. Während sich eine Minderheit maßlos bereichert, Konzerne vom Staat gepimpt werden, statt Steuern zu entrichten, soll nun die breite Masse für die Krise und die öffentlichen Schulden zahlen. Die großen Sozialprogramme sind den Eliten ein Dorn im Auge. Um ihre volle Wirkung zu erzielen, sieht Temers Rosskur auch eine große Rentenreform vor, die nur Angehörige von Polizei und Militär ausnimmt, um diesen Ausgabenposten zu senken. Anfang 2017 steht deren Verabschiedung an. Unter anderem soll die Lebensarbeitszeit für Frauen und Männer verlängert werden. Auch gegen diese Initiative richten sich landesweit Demonstrationen. Immer wieder geht die Ordnungsmacht gewaltsam gegen soziale Proteste vor.
Zahlreiche Korruptionsskandale halten den politischen Chaoskessel, befeuert von schon gewohnheitsmäßig an die Medien durchgestochenen Kronzeugenaussagen, am Kochen. Präsident Michel Temer, der bereits sechs kontaminierte Minister entsorgen musste, bewegt sich selbst nur auf ganz dünnem Eis. Von einem ehemaligen Direktor des Baukonzerns Odebrecht, Cláudio Melo Filho, wird der Staatschef gleich 43 Mal im Zusammenhang mit illegaler Geldbeschaffung genannt. Auch Temers rechte Hand, Kabinettschef Eliseu Padilha, soll bei solchen seit langem üblichen Deals zwischen Wirtschaft und Politik eine Schlüsselrolle gespielt haben. Die gesamte PMDB-Spitze und die meisten Parlamentarier haben Grund zur Furcht vor der Justiz. Die einflussreiche Nachrichtensendung „Jornal Nacional“ der Globo-Medien übt bereits Temers Demontage. Der veranstaltet Krisensitzungen, bestreitet die Vorwürfe und spielt auf Zeit. Wieviel Zeit ihm bleibt, hängt davon ab, wann ihn der konservative Koalitionspartner PSDB, eine genuine Interessenvertreterin des Großkapitals, mit Medien und Justiz eng verzahnt, für entbehrlich ansieht.
Von Peter Steiniger, erschienen in: junge Welt vom 15.12.2016, S. 6, Link