Szenen wie im Krieg in Brasiliens Hauptstadt: Rauchsäulen und Schüsse im Regierungsviertel. Ein Protestmarsch von Zehntausenden gegen das soziale Abbruchprogramm der Regierung, für den sofortigen Abtritt von Präsident Michel Temer und für Neuwahlen wurde am Mittwoch nachmittag (Ortszeit) nach friedlichem Beginn von Militärpolizei und Nationalgarde gewaltsam attackiert.
Ziel der Demonstration unter dem Motto „Ocupa Brasília“ war das Gebäude des Nationalkongresses an der Esplanade der Ministerien. Aufgerufen hatten Gewerkschaften und soziale Bewegungen.
Aus dem ganzen Land waren die Teilnehmer mit annähernd 1.000 Bussen angereist. 500 Meter vor dem Parlament erwartete sie die auf Krawall gebürstete Staatsmacht. Pfefferspray kam zum Einsatz, Blendgranaten und Tränengas folgten, berittene Polizei prügelte auf Demonstranten ein. In den Zug – die Organisatoren schätzten ihn anschließend auf mindestens 150.000 Menschen – hatten sich auch kleine Gruppen Maskierter eingereiht, die mit Akten des Vandalismus der Eskalation der Gewalt Vorschub leisteten. Ein Einsatz von Provokateuren kann angenommen werden. Am Agrarministerium wurde Feuer gelegt, weitere sieben der sämtlich evakuierten Gebäude der Behörden wurden beschädigt. 49 Verletzte, darunter auch eine Handvoll Polizisten und mehrere Reporter, mussten in die Notaufnahmen der Krankenhäuser eingeliefert werden. Es gab acht Festnahmen. Wie die Zeitung Folha de São Paulo berichtet, setzten Beamte auch Schusswaffen mit tödlicher Munition ein und feuerten in die Menge. Dabei hätte es sich nicht um Angehörige des Bataillons der Militärpolizei gehandelt, das gegen die Demonstration vorgehen sollte. Eine Untersuchung der ungesetzlichen Vorfälle sei eingeleitet worden.
Präsident Temer nahm die Ausschreitungen zum Anlass, um die Armee auf die Straße zu rufen. Eine Woche lang sollen Soldaten im Bundesdistrikt Brasília für „Recht und Ordnung“ sorgen. Die Streitkräfte sollen sowohl zum Schutz öffentlicher Einrichtungen als auch bei neuen Demonstrationen zum Einsatz kommen. Die Anordnung erfolgte ohne Konsultation mit dem Governeur von Brasília, Rodrigo Rollemberg, der von einer „extremen Maßnahme“ sprach und bezweifelt, dass sie von der Verfassung gedeckt ist. Temers Schritt weckt Erinnerungen an die Zeit der Militärdiktatur (1964-1985). Nicht nur die linke Opposition protestiert scharf, auch konservative Kommentatoren sehen diesen Schritt als Zeichen der Schwäche einer an die Wand gedrückten Regierung.
Temers neoliberales Programm mit Rentenkürzungen, der Aushöhlung des Arbeitsrechts und Privatisierungen trifft auf massenhaften Widerstand. Der Präsident selbst befindet sich in einer aussichtslosen Lage, nachdem mitgeschnittene Gespräche mit einem Unternehmer des Fleischkonzerns JBS öffentlich wurden, die seine Verwicklung in einen Schweigegeldskandal und in Korruptionsfälle belegen. Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot hat Ermittlungen wegen Beteiligung an organisierter Kriminalität gegen Temer eingeleitet und in den vergangenen Tagen bereits mehrere Vertraute des Präsidenten verhaften lassen. Selbst der mächtige Medienkonzern Globo, der Temer und den Parlamentsputsch, der ihn vor einem Jahr ins Amt brachte, förderte, hat sich gegen ihn entschieden. Neue Enthüllungen sind zu erwarten. Hinter den Kulissen diskutieren die politischen Drahtzieher das Wann und Wie seiner Entsorgung. Temer geht das Pulver bald aus.
(Nach Redaktionsschluss der Printausgabe: Präsident Temer sah sich unter wachsendem Druck auch aus dem eigenen Lager gezwungen, dass umstrittene Dekret bereits einen Tag nach Inkrafttreten wieder zurückzuziehen. Seine Berater hatten den Staatschef dringend auf die verheerende Wirkung des Militäreinsatzes auf die öffentliche Meinung hingewiesen.)
Von Peter Steiniger. Veröffentlicht in: junge Welt, 26.05.2017, Seite 1, Link