Zum Inhalt springen

Bildung okkupieren

Eine Wurzel der Misere: Brasilien gibt pro Kopf nur einen Bruchteil dessen für Bildung aus, was die entwickelten Industrienationen aufwenden, zu denen das Land bereits aufzuschließen glaubte. Unter den Regierungen von Lula da Silva und und Dilma Rousseff wurde in den Bereich seit 2003 einiges investiert. Schulen wurden gebaut, neue öffentliche Hochschulen entstanden, nichtprivilegierte Teile der Bevölkerung erhielten Zugang zu höherer Bildung. Viele Probleme blieben dabei gerade auf der Ebene der Bundesstaaten allerdings ungelöst, das Niveau der Lehre oft niedrig, die Gebühren der privaten Einrichtungen hoch. Streiks der Lehrer und Proteste von Schülern und Studenten sind daher seit Jahren eine feste Größe in den sozialen Kämpfen.

Durch die Reformpläne der neuen Rechtsregierung von Präsident Michel Temer, die reaktionären Konzepten folgen und mit denen der Einsatz der Lehrer „flexibilisiert“ werden soll, wurden die Auseinandersetzungen um die Bildungspolitik noch einmal kräftig angefacht. Die neue Bildungspolitik soll ohne gesellschaftliche Debatte von oben durchgedrückt werden. Schulbesetzungen, unter anderem in São Paulo und Rio de Janeiro, fanden in den vergangenen Wochen und Monaten immer mehr Nachahmer. Von Bahia bis Mato Grosso: Mittlerweile wurden 800 bis 1.200 öffentliche Schulen und 171 höhere Bildungseinrichungen im ganzen Land in Besitz genommen. Die Aktionen werden basisdemokratisch beschlossen und durchgeführt. Die von mehreren Schüler- und Studentenorganisationen getragene Bewegung tritt für eine kostenlose öffentliche Bildung von hoher Qualität für alle ein und erfährt auch die Unterstützung der Gewerkschaften. Die Besetzer führen den Unterricht autonom durch und artikulieren auf Vollversammlungen und Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmern ihre politischen Forderungen.

unbenanntDie Machthaber reagieren gereizt auf die Jugendrevolte. Bei gewaltsamen Räumungen durch die Militärpolizei unter Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen wurden bereits etliche Jugendliche verletzt und verhaftet. Angriffe gab es auch aus dem rechten Mob. Bildungsminister Mendonça Fil ho von den konservativen Demokraten möchte die Nationale Studentenunion (UNE), die Union der Oberschüler (Ubes) und die Union der Sozialistischen Jugend (UJS) wegen Anstiftung zu den Besetzungen auf umgerechnet über vier Millionen Euro Schadenersatz für neu anzusetzende Prüfungen verklagen. Einem politischen Dialog verweigert er sich. Die Proteste seien das Werk einer „kleinen manipulativen Gruppe“.

Die zentralen Forderungen der Bewegung zielen auf eine Neuausrichtung der Bildungspolitik unter Einbeziehung der damit befassten gesellschaftlichen Akteure. Die von der Rechten unter dem demagogischen Motto „Schule ohne Partei“ vorangetriebene Entpolitisierung der geisteswissenschaftlichen Fächer lehnen die Aktivisten ab. Ebenso die dem Senat zur abschließenden Entscheidung vorliegende Gesetzesnovelle, mit der die Ausgaben der öffentlichen Hand für 20 Jahre eingefroren werden sollen. Angesichts der demographischen Entwicklung hätte dies katastrophale Folgen für Bildung, Gesundheit und Soziales. Der Nationale Bildungsplan von 2014 zur Schaffung von Millionen dringend benötiger Krippen-, Schul- und Hochschulplätze, zur Bekämpfung des Analphabetismus und zur Verbesserung der Qualität der Lehre ist bereits Makulatur.

Die Repression gegen die Schüler und Studenten geht Hand in Hand mit einem harten Kurs der Temer-Regierung gegen die sozialen Bewegungen insgesamt. Am Morgen des 4. November waren Polizisten ohne Durchsuchungsbefehl in die Bildungseinrichtung „Florestan Fernandes“ der Landlosenbewegung MST eingedrungen. Eine Frau wurde dabei durch Schüsse verletzt. Auch an anderen Orten war der MST das Ziel behördlicher Übergriffe. Rechte Politiker möchten die Organisation, die für eine radikale Landreform eintritt, kriminalisieren. Auf einem Solidaritätsmeeting in der Schule am Tag darauf riefen Expräsident Lula da Silva und weitere linke Politiker zum einheitlichen Widerstand auf.

Für den morgigen Freitag haben studentische und gewerkschaftliche Organisationen einen landesweiten Aktionstag gegen den Sozial- und Bildungsabbau angekündigt.

Von Peter Steiniger, erschienen in: junge Welt vom 10.11.2016, S. 7, Link