Auf seinem Platz saß schon ein anderer. Dem Abgeordneten mit dem Rufnamen Waldir platzte der Kragen: Seine Partei der Republik (PR) habe seinen Sitz in der Kommission für Verfassung und Justiz des brasilianischen Kongresses an die Regierung verscherbelt, schimpfte er. Vor den Kameras der zahlreich anwesenden Medien machte er sich lautstark Luft: „Diese Regierung ist ein Dreck! Sie ist ekelhaft! Das ist eine Banditenregierung, die am Ende ist!“ Abgeordnete der Opposition beteiligten sich am längeren Tumult, der am Anfang der am Montag (Ortszeit) aufgenommenen Beratungen des Ausschusses zum Fall Michel Temer stand. Es geht dabei um die förmliche Anklage des Staatspräsidenten von der Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) durch Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot wegen passiver Korruption. Durch den heimlichen Mitschnitt eines Gesprächs mit dem JBS-Fleischbaron Joesley Batista und einen abgefangenen Geldboten wurde Temer öffentlich bloßgestellt, und der oberste Ankläger hält damit starke Beweise in der Hand.
Bis zur letzten Minute hatte das Temer-Lager die Zusammensetzung des Gremiums durch Auswechslungen verändert. Etliche Parlamentarier, welche eine Anklage des Präsidenten befürworten, mussten weichen. Mit Posten wurde geschachert, politische Zugeständnisse und Geld waren im Spiel, um Parteiführern ihre Entscheidung zu erleichtern. Die PR hatte gleich vier ihrer fünf Mitglieder in der Kommission ausgetauscht.
Waldir muss nun auf die Gelegenheit zur Einlösung seines Versprechens, gegen „eine kriminelle Organisation, die an der Macht ist“ zu stimmen, noch ein paar Tage warten. Denn das für Ende der Woche erwartete Votum des Ausschusses ist nur die erste Etappe auf dem Weg zu einer Aufhebung der Immunität des Staatschefs. Letztlich muss im Plenum eine Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Abgeordnetenhauses der Einleitung eines Prozesses vor dem Obersten Gericht zustimmen. Würde Temer dort angeklagt, wäre er für mindestens 180 Tage oder bis zur Fällung eines Urteils vom Amt suspendiert. Sein Kompagnon beim parlamentarischen Putsch 2016 gegen die legitime Präsidentin Dilma Rousseff teilt bereits im Knast das Essen aus. Wegen Korruption und Geldwäsche sitzt Eduardo Cunha, der frühere Präsident des Unterhauses, ein. Die Schecks von JBS für sein Schweigen dürften nun ausbleiben.
Temer hat ein starkes Motiv, Brasilien weiter dienen zu wollen. Mit Umbesetzungen in der Justiz hat er zwar vorgebaut. Doch für Leitmedien und Eliten ist er nicht mehr die beste Option, nur sein neoliberaler wirtschaftspolitischer Kurs ist weiter gewollt. Die Straße verachtet Temer ohnehin. Sergio Zveiter, sein Parteifreund aus Rio de Janeiro und der Berichterstatter des manipulierten Ausschusses, empfahl am Montag, der Klage gegen den Präsidenten stattzugeben. Zveiter hat sich schon mal Wachen zugelegt.
Von Peter Steiniger. Veröffentlicht in: junge Welt, 12.7.2017, Seite 2, Link