Bereits zehnmal verschoben ist nicht aufgehoben. Oder doch? Ab Dienstag sollten im Unterhaus des Kongresses in Brasília die Beratungen über tiefe Einschnitte in die Sozialversicherung beginnen. Die Beschlussfassung über die Verfassungsänderung war für den 28. Februar vorgesehen. Es handelt sich um eines der zentralen Projekte der Regierung von Michel Temer und ihres Lagers im Kongress. Damit sollen vor allem die Ausgaben für Renten gedrückt werden. Weil es bisher nicht gelang, die dafür nötigen 308 Abgeordneten zusammenzutrommeln, geriet das Vorhaben zur Hängepartie. Damit es doch noch über die Bühne geht, wurde gefeilscht, wurden Details der Novelle frisiert. Und mit einer kostspieligen Werbekampagne wurde landesweit die „Reforma da Previdência“ als Ei des Kolumbus angepriesen. Es ginge bei ihr doch nur, wurde propagiert, um das Abschneiden alter Zöpfe im System. Das Vorhaben treffe lediglich Schmarotzer, die sich nach einem kurzen Arbeitsleben früh in eine üppige Pension verabschiedeten. Doch um das Image der Sparpläne steht es weiter schlecht, die große Mehrheit der Bevölkerung lehnt sie nach Umfragen ab. Ausgerechnet dieses Establishment soll sich an ungerechtfertigten Privilegien stören – das nimmt der Brasilianer auf der Straße ohnehin nicht für bare Münze.
Was mit der Notwendigkeit begründet wird, die Kassen zu sanieren, würde für Millionen Brasilianer eine kleinere oder einen Lebensabend ganz ohne Rente bedeuten. Das Mindestalter für den Eintritt in den Ruhestand soll für Männer zunächst von 60 auf 65, für Frauen von 55 auf 62 Jahre steigen. Viele würden wegen einer Anhebung der Beitragszeiten auf dieses unrealistische Niveau die Chance einbüßen, überhaupt eine Pension zu erhalten oder müssten mit erheblichen Abschlägen rechnen. Gewerkschaften sprechen vom Zwang zur Arbeit bis zum Tod. Während das Rentensystem angeblich vor dem Kollaps steht, erließ die Temer-Regierung Konzernen und Großagrariern allein 2017 Beitragsschulden in Milliardenhöhe. Der sogenannten Reform „aufgeschlossen“ gegenüber sind die privaten Versicherungskonzerne, deren Bosse mit den Machthabern in Brasília verbandelt sind.
Die linke Opposition und die Gewerkschaften stehen gegen die neoliberale Rentenkürzung bereits seit Monaten auf der Barrikade. Mit Kampagnen werden Deputierte aus dem konservativen Lager wirkungsvoll unter Druck gesetzt. Wer für diese Gesetze die Hand hebe, so deren Botschaft, könne seine Wiederwahl bereits abschreiben. Und am heutigen Montag erwartet den Kongress ein kräftiger Schuss vor den Bug. Die Gewerkschaftszentralen und viele Einzelgewerkschaften haben zum nationalen Generalstreik aufgerufen. Unterstützt werden sie von den linken Parteien und den sozialen Bewegungen des Landes. In vielen großen Städten sollen Versammlungen und Kundgebungen abgehalten werden, die sich gegen die neoliberale Politik wenden. So wie in der bevölkerungsreichsten des Landes, wo die Organisation der Busfahrer die Beschäftigten der Verkehrsgesellschaft „São Paulo Transporte“ aufgerufen hat, die Arme zu verschränken, sollen im ganzen Land viele Räder stillstehen. Lehrer wollen nicht unterrichten, öffentlich Beschäftigte ihren Dienst nicht aufnehmen, Banker die Schalter geschlossen halten. Auch die Metallarbeiter und die Lohnabhängigen weiterer Branchen haben sich angeschlossen.
Am vergangenen Freitag öffnete die Regierung die Kasernen und nahm damit die „Reform“ mit ihren vagen Erfolgsaussichten aus der Schusslinie. Priorität hat in der öffentlichen Diskussion nun die Militärintervention in Rio de Janeiro unter dem Vorwand, damit dort die Kriminalität zu bekämpfen. Unterhauspräsident Rodrigo Maia von den konservativen Democratas gab eine neue Tagesordnung bekannt. Das Parlament wird sich nun mit Temers Dekret, das dem Militär am Zuckerhut die Befugnisse der Polizei überträgt, beschäftigen. Vagner Freitas, Präsident der Gewerkschaftszentrale CUT, betonte, dass nun erst recht Druck gemacht werden soll. Es bliebe beim Generalstreik: „Unser Kampf zielt darauf, die Reform ein für allemal zu beerdigen.“ Für die Arbeiterpartei PT erklärte deren Vorsitzende Gleisi Hoffmann, die Intervention diene dazu, den Fokus der Öffentlichkeit auf ein anderes Thema zu lenken. Die Situation in Rio sei in der Tat ernst, „aber wir sind alarmiert, dass zugleich die Repression gegen die sozialen Bewegungen gesteigert und weitere verfassungsmäßige Rechte außer Kraft gesetzt werden können“.
Von Peter Steiniger. Veröffentlicht in: junge Welt, Ausgabe vom 19.02.2018, Seite 7 / Ausland, Link