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Mit der Geduld am Ende

Brasiliens linksgerichteter Präsident Inacio „Lula“ da Silva liegt schlecht im Plan. Daran erinnerten ihn die Bewegungen der Kleinbauern und der Landlosen, die in den letzten Maitagen eine nationale Kampagne für die Umsetzung der versprochenen Landreform begannen.

Bis zum Ende der Legislaturpe­riode hatte die Regierung Grund und Boden sowie die notwendige Infrastruktur für 400000 Menschen versprochen. Darüber hinaus sollten 130000 Familien einen Besitztitel für Land erhalten, das sie bereits bearbeiten. Doch nur ein Bruchteil der Vorgaben im Nationalplan für die Agrarreform, PNRA, wurde in die Praxis umgesetzt. Die Neuverteilung von Ländereien kommt kaum voran. Die Behörde hat zu wenige Mitarbeiter und nur unzureichende finanzielle Mittel. Noch immer ist ihr Haushalt für das laufende Jahr nicht bestätigt. Vor den im Oktober 2006 anstehenden Präsidentschaftswahlen sieht sich Lula mit einer wachsenden Unzufriedenheit seiner sozialen Basis konfrontiert.

Die Aktivisten der Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST), der Bewegung der Landarbeiter ohne Boden und von Via Campesina, einem Zusammenschluß von Bauern- und indigenen Organisationen, blockierten Straßen in verschiedenen Bundesstaaten und besetzten Niederlassungen der Agrarreformbehörde Incra (Instituto Nacional de Colonização e Reforma Agrária), so in Pernambuco und Ceará. Im Bundesstaat Rio Grande do Sul wurden Märsche und Demonstrationen durchgeführt, in dessen Hauptstadt Porto Alegre der Incra-Sitz von einem Camp mit Hunderten Familien belagert. Am 23. Mai besetzten etwa 450 Familien die Zentrale der staatlichen Entwicklungsbank Banco do Brasil in der Bundeshauptstadt Brasília mit der Forderung nach Krediten für kleine Produzenten.

Recht auf Boden

Allen Aktionen gemein war das Bestehen auf Umsetzung einer Vereinbarung zwischen Regierung und MST vom Mai 2005. Darin wurden eine Beschleunigung der Agrarreform, die Überprüfung der Produktivitätsindikatoren für die Landwirtschaft und Umschuldungen für Kleinbauern durch Banco do Brasil zugesagt. Das staatliche Geldhaus reicht bislang 90 Prozent seiner Darlehen an Mittel- und Großbetriebe aus.

Mit der Mobilisierung der Bauernorganisationen und Druck aus der Bevölkerung soll dem großen Ziel näher gekommen werden, ein garantiertes „Recht auf Boden“ durchzusetzen, so ein Sprecher des MST. Der Politik der brasilianischen Bundesregierung stellen die Landlosen ihr Programm entgegen. Darin fordern sie eine Umstrukturierung der Agrarwirtschaft des Landes, sozialen Schutz, Preisgaran­tien und faire Vermarktungschancen für kleine bäuerliche Wirtschaften.

Der politische Kampf um die Reforma Agrária schwelt und lodert seit Jahrzehnten im größten Land Lateinamerikas. Agrarkonzerne und Großgrundbesitzer verfügen über 80 Prozent des Bodens, ein großer Teil davon wird kaum bewirtschaftet. Gleichzeitig wird die Zahl der Landlosen auf fünf Millionen geschätzt. Ein Unrecht, das historisch seit der Kolonisation gewachsen ist. Die Landfrage ist die brisanteste politische Frage in einem Land, das entscheidend durch den Gegensatz zwischen arm und reich geprägt ist. Die Besitzlosen finden sich zu Millionen in den Favelas, den Armensiedlungen, an der Peripherie der Großstädte wieder.

Der MST streitet seit mehr als zwanzig Jahren für eine radikale Bodenreform. Er ist eine der wichtigsten und populärsten Massenbewegungen Brasiliens und vereint die Familien von Landlosen, aus dem Landproletariat, von Pächtern und Kleinbauern. Diszipliniert, kollektiv, mutig und gewaltlos sind die oft spektakulären Aktionen seiner Aktivisten. Die Ideen speisen sich vor allem aus der Befreiungstheologie. Der MST kämpft für ein alternatives Wirtschaftsmodell, das den Binnenmarkt stärkt, und für eine Landwirtschaft, die ökologische und gesunde Nahrungsmittel produziert. Immer wieder sind Landlose Repressionen ausgesetzt, etliche MST-Aktivisten fielen den Totschlägern der Latifundisten zum Opfer.

Um an die Macht zu gelangen, ging der 2002 erstmals gewählte Präsident Lula von der Arbeiterpartei PT Bündnisse mit dem bürgerlichen Lager ein. Die Politik seiner Regierung ist zwiespältig. Mit dem Nothilfeprogramm Brasil sem fome (Brasilien ohne Hunger) wurde eine historische Aufgabe angegangen und Ernährungssicherung für jeden Bürger zur wichtigsten Aufgabe erklärt. Dieses Ziel liegt noch weit.

Zauderer vom Zuckerhut

Während die Bodenreform stagniert, wird ein kapitalintensives, umweltschädliches Agrobusiness gefördert, das nur wenige Arbeitsplätze schafft und die besten Anbauflächen okkupiert. Die Exporte der großen Agrarkonzerne sind ein Eckpfeiler Brasiliens auf dem Weltmarkt, Zielregion Nummer eins ist die Europäische Union. Das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte in Brasilien ist Leitfaden der Politik, das Land Musterschüler im Schuldendienst beim Internationalen Währungsfonds IWF – da bleibt wenig Geld und Spielraum für die sozialen Fragen.

Von Peter Steiniger. Quelle: https://www.jungewelt.de/2006/06-02/038.php

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