Dass der Kaiser nackt ist, sieht in Brasilien längst nicht nur jedes Kind. Nach einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Datafolha sind die Zustimmungswerte für Präsident Michel Temer von der Partei der Demokratischen Bewegung (PMDB) und sein Kabinett nach den schweren Korruptionsvorwürfen, die Mitte Mai öffentlich wurden, auf den tiefsten dort für eine Regierung ermittelten Stand seit 28 Jahren gesunken. An den Urnen würde der Mann selbst gegen die Fehlerquote von Wahlumfragen verlieren, unkt eine Satireseite.
Die knappe Entscheidung des Obersten Wahlgerichts dank dreier von Temer selbst vorsorglich berufener Richter am 9. Juni, die Präsidentschaftswahlen von 2014 – bei der er als Vize von Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) kandidierte, nicht wegen schwarzer Wahlkampfkassen zu annullieren – verschaffte ihm nicht mehr als eine Atempause. Nur wenige Tage später legte Joesley Batista, Chef des Lebensmittelkonzerns JBS, der den Präsidenten durch ein für die Behörden mitgeschnittenes Gespräch über Schweigegeldzahlungen und andere Machenschaften bloßgestellt hatte, mit einem Interview für die Zeitschrift Época nach. Das Blatt gehört nicht zufällig zur Globo-Gruppe, dem Medienkonzern, der Temer neuerdings als unbedingt entbehrlich betrachtet.
Batista vollzog darin seine jahrelange kostspielige Geschäftsbeziehung mit dem etablierten Politikfilz nach. Hohe Millionenbeträge sollen demnach geflossen sein, um Entscheidungen zugunsten des JBS-Konzerns zu beeinflussen, immer neue Forderungen waren zu bedienen. Die Gruppe um den Präsidenten bezeichnete er als „die größte und gefährlichste kriminelle Organisation dieses Landes“. Temer sei deren Chef und man lege sich mit ihr besser nicht an. Den früheren Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha, der bereits wegen Korruption verurteilt wurde und im Gefängnis sitzt, stellte er als die Nummer zwei in der Hierarchie dieser Mafia dar. „Wer nicht verhaftet wurde, sitzt heute im Planalto“ – gemeint ist der Amtssitz des Präsidenten.
Die Aussagen des JBS-Bosses im Rahmen einer großzügigen Kronzeugenregelung bilden nur einen Baustein der förmlichen Anklage wegen Bestechlichkeit und weiterer Delikte, die Generalstaatsanwalt Rodrigo Janot bis zum morgigen Dienstag dem Obersten Gericht (STF) präsentieren muss und wird. Neben den von Temer gebilligten Schweigegeldern für Eduardo Cunha und Lúcio Funaro, einen weiteren Helfer bei der Geldaquise, ist da ja noch die Sache mit Rodrigo Rocha Loures. Der PMDB-Abgeordnete war im Anschluss an das nächtliche Vieraugengespräch zwischen Batista und Temer von der Polizei bei der Übernahme eines Geldkoffers mit Absender JBS gefilmt worden, der für Temer bestimmt gewesen sein soll. Einen derben Rückschlag erlitt die Verteidigungsstrategie des Präsidenten durch den Expertenbericht der Bundespolizei vom vergangenen Freitag zu Batistas heimlicher Audioaufnahme. Anders, als von Temers Lager unterstellt und von einigen Leitmedien, die ihm stellenweise noch Deckung geben – darunter die renommierte Folha de S. Paulo – verbreitet, konnten keinerlei Manipulationen nachgewiesen werden.
Für die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen den Präsidenten wegen gewöhnlicher Verbrechen, das dessen Suspendierung für zunächst 180 Tage zur Folge hätte, wird das Plazet des STF ebenso benötigt wie eine Zustimmung von zwei Dritteln der Abgeordneten des Parlaments. Die staatlich organisierte Kriminalität hat also noch Verteidigungslinien. Janot versucht diese zu durchbrechen, indem er Abgeordneten, die an illegaler Parteienfinanzierung beteiligt waren, ohne sich selbst zu bereichern, eine nur symbolische Bestrafung in Aussicht stellt. Einen Fragenkatalog der Behörden ließ der Präsident unbeanwortet, Batista bezeichnet er als Lügner und droht diesem mit Klagen. Zieht sich die Schlinge um Temers Hals nicht bis zum September zu, kann er Janot durch einen Generalstaatsanwalt ersetzen, der es nicht auf seinen Kopf abgesehen hat. Mit Torquato Jardim hat er sich bereits einen neuen Justizminister erwählt, der die Bundespolizei an die Kandare nehmen soll.
Von Peter Steiniger. Veröffentlicht in: junge Welt, 26.06.2017, Seite 7, Link