Portugals „Superwahljahr“ geht seinem Höhepunkt entgegen. Am 27. September wird in dem iberischen Staat ein neues Parlament, die Versammlung der Republik, bestimmt. Zwei Wochen darauf folgen die Autarquias, landesweite Kommunalwahlen.
Für die seit 2005 alleinregierende Sozialistische Partei (PS) von Premier José Sócrates ist die Luft dünn geworden. Bei den Europawahlen im Juni erreichte sie (bei schwacher Wahlbeteiligung) gerade einmal 26,6 Prozent und fiel deutlich hinter die rechtsliberale PSD (Partido Social Democrata) zurück. Das Wahlziel einer eigenen Parlamentsmehrheit erscheint unerreichbar. Im Aufwind befindet sich die linke Opposition. Sowohl der plurale Linksblock (Bloco de Esquerda) als auch die Kommunisten (PCP) peilen zweistellige Ergebnisse an.
Auch wenn Sócrates die Schwäche der internationalen Konjunktur für die Erosion der PS-Wählerschaft verantwortlich macht und einen baldigen Aufschwung verkündet: Die Bilanz seiner Regierungszeit insgesamt – seit 2006 in Kohabition mit dem liberalen Staatspräsidenten Aníbal Cavaco Silva – fällt für die meisten Portugiesen ernüchternd aus. Die Sozialisten schlossen nahezu nahtlos an die vorhergegangene PSD-Politik an. Für Portugal als EU-Musterknaben blieb die Eindämmung des Haushaltsdefizits der Dreh- und Angelpunkt. Unter Reformetikett wurde weiter privatisiert, der öffentliche Dienst und das Gesundheitswesen wurden beschnitten. Die wirtschaftliche Dauerflaute blieb, die Kaufkraft der Bevölkerung sank weiter. Nach wie vor lebt jeder fünfte Portugiese in Armut. Die Gewerkschaften mobilisierten gegen den Sócrates-Kurs mit Generalstreiks und Massenprotesten, wie sie Portugal seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatte.
Die neue Qualität sozialer Kämpfe speist sich aus dem Lebensalltag. Eine reformierte Arbeitsgesetzgebung weicht das Tarifrecht auf. Die Ausdehnung von prekärer Beschäftigung fällt ins Auge. 1,2 Millionen Erwerbstätige sind betroffen. Nach Angaben von Eurostat, des Statistischen Amtes der EU, sind heute fast 22 Prozent aller Arbeitsverträge Zeitverträge. In den neunziger Jahren lag die Quote bereits bei 18 Prozent. Damit nimmt Portugal den dritten Platz in Europa ein. Nur in Polen und Spanien ist Zeitarbeit noch verbreiteter.
Die globale Krise hat den Negativtrend beschleunigt. Besonders die verarbeitende Industrie und der Tourismus sind betroffen. Viele kleine und mittlere Unternehmen werden nach dem Ende des Sommers geschlossen bleiben. Die Zahl der Arbeitslosen ist im Laufe eines Jahres um fast ein Viertel gestiegen – besonders im Zentrum und im Norden, im Raum Lissabon sowie im Alentejo. Für den August ermittelte das Nationale Institut für Statistik, INE, eine Arbeitslosenquote von 9,1 Prozent. Im Jahr 2004 lag diese noch bei 6,7 Prozent. Rechnet man die statistisch verschleierte Erwerbslosigkeit mit, wie es die Gewerkschaftszentrale CGTP tut, haben sogar 635000 Portugiesen, das sind 11,2 Prozent der aktiven Bevölkerung, keinen Job.
Und es geht weiter abwärts. Nach den Indikatoren der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, zählt Portugal zu jenen Ökonomien, die sich am langsamsten stabilisieren. Für 2010 wird dem Land die schlechteste Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) innerhalb der Eurozone vorausgesagt. Gemessen am EU-Durchschnitt sank das Pro-Kopf-BIP von 78,3 Prozent 1999 auf 73,7 Prozent 2008 ab – und das trotz EU-Osterweiterung. Für das laufende Jahr kalkuliert man ein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung um 3,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Die PSD möchte den Krisennerv der Bevölkerung mit einer „Eisernen Lady“ an der Spitze, Exfinanzministerin Manuela Ferreira Leite, treffen. Diese will das Vertrauen der Bürger in den Staat zurückgewinnen. Ihre eigene Partei war nach einem Jahrzehnt an der Regierung über Filz und Skandale gestürzt. Mit einer „Politik der Wahrheit“ will Leite nun Portugal „wettbewerbsfähig“ umkrempeln und von seiner Rolle als ewiger EU-Nachzügler erlösen. Als möglicher kleinerer Partner stünde die rechtskonservative Volkspartei, CDS-PP, bereit.
KP-Chef Jerónimo de Sousa sieht in der Politik der PS den „Türöffner für die Rechte zur Macht“. Seine Partei strebe „nicht um jeden Preis“ in die Regierung. Voraussetzung für Kooperationen sei eine klare linke Alternative. Die Kommunisten werben um enttäuschte Anhänger der Sozialisten. Ein volles Reservoir: In den zurückliegenden vier Jahren „schröderte“ der zum rechten Flügel gehörende Sócrates seine Partei tüchtig. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen hatte der unabhängige Alt-Sozialist Manuel Alegre den offiziellen PS-Kandidaten Mário Soares übertrumpft. Profitieren kann auch der erst 1999 von Extrotzkisten und KP-Absprengseln ins Leben gerufene Linksblock. Der Bloco gehört, wie die deutsche Linkspartei, der Europäischen Linken (EL) an.
Sócrates verspricht seinen Landsleuten erneut ein „Projekt der Modernisierung“ und setzt auf Lagerwahlkampf. Ohne absolute PS-Mehrheit wäre das Land unregierbar, behauptet er. So sollen die Bürger zum „nützlichen Votum“ stimuliert werden. Denn bei den Legislativas gilt kein reines Verhältniswahlrecht. Abhängig von der Zahl der einem Wahldistrikt zustehenden Mandate fallen deshalb viele Stimmen unter den Tisch. Die indirekte Sperrklausel benachteiligt systematisch kleinere Parteien. Die starke Binnenmigration in die urbanen Zentren verstärkt diese Disproportionalitäten. Der Trend, strategisch statt nach politischer Präferenz zu wählen, erschwert Voraussagen. In diesen liegt die PS nur hauchdünn vor der PSD, die auf etwa 35 Prozent taxiert wird. Bei einem knappen Wahlausgang könnte die Partei mit den meisten Wählerstimmen paradoxerweise auf weniger Mandate als ihre Verfolgerin kommen. Präsident Cavaco Silva müßte dann ausknobeln, wer den Zuschlag zur Regierungsbildung erhält. Die Verfassung regelt einen solchen Fall nicht eindeutig.
Peter Steiniger
Von Peter Steiniger. Quelle: https://www.jungewelt.de/2009/09-15/009.php