Zum Inhalt springen

Legende für Dolchstoß

Das neueste Kapitel im brasilianischen Politkrimi spielt live in einem Gerichtssaal. Seit Dienstag wird vor den Augen der Fernsehnation vor dem Obersten Wahltribunal (TSE) in der Hauptstadt Brasília darüber verhandelt, ob die Kandidaturen von Dilma Rousseff und Michel Temer zu den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2014 nachträglich für ungültig erklärt werden. Die Politikerin der Arbeiterpartei (PT) Rousseff wurde damals in der Stichwahl gegen ihren konservativen Herausforderer Aécio Neves von der sozialdemokratisch gelabelten PSDB im Amt bestätigt. Michel Temer von der rechtsopportunistischen PMDB, dem geschiedenen Zweckehepartner der PT, durfte das an sich eher protokollarische Amt des Vizepräsidenten antreten.

Der Prozess geht auf eine Klage der PSDB zurück, die darin eine Option sah, das Wählervotum in einer „dritten Runde“ außer Kraft zu setzen. Dem siegreichen Lager werden Unregelmäßigkeiten bei der Wahlkampffinanzierung vorgeworfen. Nach dem Sturz von Rousseff durch ein fadenscheiniges Amtsenthebungsverfahren ist die PSDB nun allerdings der wichtigste Allierte der PMDB und sitzt in der Regierung des im Mai letzten Jahres zum Staatschef aufgestiegenen Temer. Folgt das Gericht den Klägern, würde der Präsident nun mit über den eigentlich für Rousseff ausgelegten Fallstrick stürzen.

In der Theorie soll das Verfahren klären, welche der verwendeten Wahlkampfgelder aus dem Rousseff-Temer-Lager als regulär gelten dürfen und welche als Schwarzgeld zur „zweiten Kasse“ zu zählen sind – und ob dies den Wahlausgang entscheidend beeinflusste. Eine „caixa 2“ ist bei den meisten Parteien Brasiliens eine seit langem übliche Praxis. Gerade die eng mit dem Großkapital verbundene PSDB sitzt mitten im Glashaus. Unlängst musste Aécio Neves als ihr Parteichef seinen Hut nehmen und wurde auf richterliche Anweisung hin als Senator suspendiert. Eine Aufzeichnung seiner Bettelei um ein paar Millionen beim Chef des Fleischproduzenten JBS, Joesley Batista, war publik geworden, die Polizei filmte eine Geldübergabe mit. Der Generalstaatsanwalt ist nun hinter Neves her, dessen Schwester und Mentorin Andrea bereits in Untersuchungshaft sitzt. Doch zurück zum Prozess beim TSE: Im Raum steht hier auch die Frage, ob die Aussagen des auf Hafterlass ausgehenden Baukonzernchefs Marcelo Odebrecht, der Gott und die Welt als Geldempfänger denunziert, in das Verfahren mit eingehen dürfen. Denn sonst hat man hier nicht viel in der Hand.

Bedeutsamer als die Rechtsfindung ist für den Ausgang des Prozesses – ein Urteil wurde noch für Freitag erwartet – das politische Umfeld, in dem er stattfindet. Denn die Judikative ist, wie beim kalten Putsch gegen Rousseff deutlich wurde, ein zentraler Akteur im Ränkespiel. Temer steht im Mittelpunkt eines Korruptions- und Schweigegeldskandals, ist politisch verbrannt, wurde zur surrealen Figur. Die PSDB setzt sich sachte ab. Sein Fall ist für eine starke Fraktion der Eliten beschlossene Sache, eine Absetzung des Staatschefs durch den TSE wäre hierfür ein idealer Shortcut. Die Globo-Medien führen die heikle, selbstentlarvende Operation gegen ihren früheren Günstling an. Gerettet werden sollen hingegen Temers neoliberale „Reformen“. Doch dieser möchte seine Haut nicht hergeben. Und er hat vorausgedacht: Sofort nach Amtsantritt ernannte er mit Gilmar Mendes, der den Putsch in Roben verkörpert, den aus seiner Sicht richtigen Mann zum Präsidenten des TSE. Nun soll dieser den „Putsch im Putsch“ für ihn aufhalten.

Von Peter Steiniger. Veröffentlicht in: junge Welt, 10./11..06.2017, Seite 6, Link