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Kommen und Gehen

Acht auf einen Streich: Eine Gruppe brasilianischer Jura-Studenten versteht auf einmal Europa nicht mehr. Ihr Ausflug am letzten Dienstag nach Berlin endet abrupt im Polizeigewahrsam auf dem Flughafen-Schönefeld.

Dort bemüht sich eine Dolmetscherin, den unfreiwilligen Gästen zu erklären, wie man bei der Bundespolizei das Schengener Abkommen auslegt. Zurück auf Start Das Übereinkommen von 1985 regelt die Kontrollen des Personenverkehrs an den gemeinsamen Außengrenzen von mittlerweile 24 EU-Staaten. Doch auch innerhalb des Schengen-Raums hat die Freizügigkeit Grenzen, was Kepler Silveira Leite und seine Begleiter zu spüren bekamen. Statt am Kudamm zu flanieren, mußten sie eine Nacht auf der Wache hocken, statt Cocktails teure Tickets für den nächsten Rückflug zum Ausgangsort der Reise ordern. Man kann es aber auch so sehen wie die polizeiliche Lage- und Einsatzzentrale der Amtsdirektion Berlin: Diese Personen hätten „eine freiwillige Ausreise zugesagt“. Mit welcher Alternative? wollte jW wissen. „Sonst wäre ihre Ausreise durch unsere Leute durchgeführt worden.“

Kepler und seine sieben Begleiter waren aus Budapest angereist. Er lebt und studiert zur Zeit in Lissabon, auch die anderen aus der Gruppe sind an portugiesischen Hochschulen eingeschrieben. Für den Aufenthalt dort sind sie im Besitz von sogenannten D-Visa, gültig für ein halbes bis zu einem Jahr. Sie alle sind Teilnehmer am Austauschprogramm der EU „Erasmus“. Ihre freie Zeit nutzen sie gern dazu, um etwas vom „Alten Kontinent“ kennenzulernen. Auch Prag, Bratislava und Wien waren bereits Ziel von Exkursionen. Probleme an den Grenzen gab es dabei nicht. Anders in Deutschland: Einreise verweigert. „Mein Freund und seine Begleiter sind bestürzt über das, was ihnen in Berlin passiert ist. Die Beamten haben ihnen nicht einmal etwas zu trinken gegeben“, berichtet nach einem Telefonat mit Kepler seine Lebensgefährtin Emanuela. Die beiden sind in Recife im Nordosten Brasiliens zu Hause. Abkommen ignoriert An und für sich können Brasilianer und Deutsche in das jeweils andere Land ganz ohne Sichtvermerk reisen, sofern sie „flüssig“ sind und ihr Aufenthalt neunzig Tage nicht überschreitet. Seit Jahrzehnten gibt es hierzu eine bilaterale Vereinbarung. „Da diese von deutscher Seite nicht aufgekündigt wurde, gehen wir davon aus, daß sie auch weiterhin gilt“, so Fernanda Lamego, Konsulin an der brasilianischen Botschaft in Berlin, gegenüber junge Welt.

Brasilien hat bilaterale Abkommen über einen wechselseitigen Verzicht auf eine Visumspflicht bei Touristen- oder Besuchsreisen mit fast allen Ländern der EU getroffen. Deutsche profitieren bei Ausflügen zum Zuckerhut gern von einer Reiseerleichterung, die Bürokratie und Kosten spart. Der entsprechende Austausch von Verbalnoten 1955/56 mit den Vereinigten Staaten von Brasilien seinerzeit geschah in einem interessanten historischen Umfeld. Denn damit konnten nach dem Amnestiegesetz von 1949 und dem Straffreiheitsgesetz von 1954 auch die zahlreich in Brasilien untergetauchten NS-Täter wieder unbeschwert Heimaturlaub im Adenauer-Staat machen. Unter Generalverdacht Fernanda Lamego beschäftigten seit Mitte vergangenen Jahres bereits etliche Fälle wie die der Studenten. „Wir sind in dieser Frage bei den deutschen Behörden bereits sehr nachdrücklich vorstellig geworden.“ Im Januar habe es eine Unterredung mit Vertretern des Außenamtes und des Ministeriums des Innnern gegeben. Die deutsche Seite habe zugesagt, nach einer befriedigenden Lösung zu suchen. Eine Suche, die weiter anhält, wie der jüngste Zwischenfall in Schönefeld deutlich macht.

Nicht nur Brasilianer sind betroffen, auch Touristen aus anderen, besonders lateinamerikanischen Ländern laufen Gefahr, abgewiesen zu werden. Carlos Fernandez, Pressesprecher der mexikanischen Botschaft, bestätigt, daß auch Reisende aus seinem Land betroffen sind. Man sei über die „entsprechenden Kanäle“ mit den hiesigen Behörden in Kontakt, suche nach einer Lösung.

Das Auswärtige Amt möchte gegenüber jW nicht Stellung beziehen, auch nicht zu den bilateralen Aspekten. Dort verweist man – wohl nach dem Verursacherprinzip – auf das „federführende Innenministerium“. Aus deutschen Diplomatenkreisen ist zu erfahren, daß hinter den Kulissen eine Interessenkollision zwischen Schäubles Innenressort und dem Auswärtigen Amt von Frank-Walter Steinmeier besteht. Um aus dem Dilemma herauszukommen – eine Rücknahme der eingeführten Praxis liegt nicht in der Natur deutscher Innenbehörden –, soll an die Erteilung von Schengen-Visa vom Typ C (für kurzfristige Aufenthalte) bei der Grenzkontrolle gedacht sein. Es geht die Sorge um, daß Schäubles Sheriffs dem weltoffenen Image Deutschlands weiter Schaden zufügen und seine außenpolitischen Beziehungen beeinträchtigen.

Von Peter Steiniger. Quelle: https://www.jungewelt.de/2008/04-19/024.php

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