Marie, die Heldin von Leander Sukovs Berlin-Roman „Warten auf Ahab“ ist „keine von den anderen“, den Gleichgültigen, Abgestumpften. Sie ist eine Unangepaßte. Aus einem seit der Wende immer mehr heruntergewirtschafteten Dorf in Mecklenburg ist sie zum Studium in die Hauptstadt gekommen. In der ruhelosen Metropole, die ihr wie ein ungeheurer Wal erscheint, sucht Marie nun Anschluß – an die linke Szene, aber auch in Liebesdingen.
Zurück bleibt das Elternhaus: die harmoniebedürftige Mutter, der Vater mit dem Kainsmal des Stasi-IM, der zu seinem früheren Tun und seinen Motiven nicht stehen will. Das macht ihn kleiner in Maries Augen. Sie sieht im verflossenen Arbeiter- und Bauernstaat ein Gegenbild zur ätzenden großdeutschen Gegenwart.
Politik und Erotik sind die Hauptzutaten des Romans von Leander Sukov, dem 1957 in der zweiten deutschen Großstadt Hamburg geborenen und kommunistisch engagierten Schriftsteller. In Gestalt einer monologisierenden Ich-Erzählerin spiegelt er das Denken und die Sprache, das Fühlen und Erleben einer 25jährigen Frau mit ostdeutscher Biographie. Wie Altmeister Hitchcock in seinen Filmen, gönnt sich Sukov einen Cameo-Auftritt in Maries Gedanken. Darin erscheint „ein älterer Mann, die Hand immer am Schwanz beim Schreiben, der vorgibt, eine junge Frau zu sein.“
Was aber kommt bei dieser „Schreibtechnik“ heraus? Einige Male und in wechselnder Besetzung geht es ohne viel Gezicke und Gezacke zur Sache, steigt unsere Heldin mit Freunden und Bekannten in die Kiste. Sex erscheint als die „hier einzige Fluchtmöglichkeit“. Mehr realistisch als pornographisch hat Leander Sukov die erotischen Begegnungen gestaltet. Mit von der Partie sind der revoluzzende Junge aus dem Westberliner Spießermilieu mit Nierentisch in der Studentenbude sowie der kiffende „Silberhaarmann“ mit der interessanten Vita eines DDR-Spions. Außerdem gibt es den um einige Jahre älteren Kumpel Lutz, den Seelenverwandten, Küchenphilosoph und Bettfreund für ab und an, der in seiner Dorfkneipe die „Ich-war-einmal-Menschen“ auffängt und alte Puhdys-Platten auflegt. Bei ihm fühlt sie sich geborgen und nicht mit einem Besitzanspruch belegt. Die Männer wissen voneinander und arrangieren sich mit der Situation. Auch von einem lesbischen Ausflug wird erzählt. Keine große Sache mehr in Kreuz-und-queer-Zeiten, scheint es.
Mit Herbstmelancholie und viel Weltschmerz, getrieben von der Sehnsucht nach einer Nähe, die nicht einengt, arbeitet sich Marie am Moloch Berlin, an deutscher Gegenwart und Geschichte ab. Die seelische Verstümmelung und Selbstverstümmelung der Menschen im Osten nach der sogenannten Wende wird anschaulich. Marie macht von ihrem Vorrecht als Jungkommunistin Gebrauch, altklug zu sein, vor Bekennermut und Idealismus überzulaufen. Mitunter – „der Unterricht kollidierte mit meinen Demokratieerfahrungen“ – klingt der Autor selbst onkelhaft durch. Vor allem dann, wenn über die Möglichkeit einer besseren DDR phantasiert wird, über öffentlichen Widerspruch und einen Wettstreit der Ideen, „ausgetragen im ND und der Jungen Welt“, sind das doch eher Gedanken aus einer anderen Zeit, um nicht zu sagen: von gestern. Trotzdem: Leander Sukov hat ein unbequemes Buch geschrieben, das sich lustvoll und tiefgründig am wirklichen Leben reibt. Außerdem ist es ein nützlicher Kneipenführer und liefert die Music-Playlist für den aufrechten Revolutionär von gestern, heute und morgen. Solche Bücher brauchen wir. Und wir brauchen Menschen wie Marie, die wissen, wohin sie gehören.
Leander Sukov: Warten auf Ahab oder Stadt Liebe Tod. Kulturmaschinen Verlag, Berlin 2012, 280 Seiten, 17,80 Euro.
Von Peter Steiniger. Erschienen in: junge Welt vom 04.07.2013, Nr.152, S.12, Link