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In Brasilien bewegt sich was

Die 20 Centavos sind nur der Tropfen, der das Faß überlaufen läßt. Um diesen Betrag, auf nun 3,20 Reais, wurden in Brasilien die Busfahrpreise zum Anfang dieses Monats erhöht. Der kleine Mehrbetrag summiert sich für diejenigen, die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind, allerdings schnell. Bei jedem Umsteigen im oft schlecht organisierten Nahverkehr ist ein neues Ticket zu lösen. Gegen die Preissteigerung wehrt sich landesweit mit Demonstrationen und anderen Protestformen eine zu großen Teilen spontane Bewegung, die immer mehr Zulauf erhält. Vielerorts kommt es dabei immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei und Übergriffen auf Teilnehmer.

Der Fahrpreiskonflikt wird zum Vehikel von weitverbreiteter Unzufriedenheit und Empörung, die tiefer reichen: Die rasante wirtschaftliche Konjunktur des Schwellenlandes hat sich deutlich abgekühlt, Inflation und Lebenshaltungskosten ziehen hingegen an. Längst nicht alle haben vom Aufschwung profitiert. Millionen brasilianische Familien sind existentiell auf die Sozialleistungen angewiesen, die unter der Ägide der seit einem Jahrzehnt regierenden Arbeiterpartei (PT) eingeführt wurden. Das öffentliche Gesundheitswesen und das Bildungssystem haben weiter mit großen Mängeln zu kämpfen, gleichzeitig werden viele Milliarden für Bauten und Infrastruktur im Zusammenhang mit der Fußball-WM der Männer 2014 und den Olympischen Spiele von Rio de Janeiro zwei Jahre darauf aufgewendet, versickern durch Korruption oder fließen in die Taschen der mafiösen Organisatoren. Um die beiden weltweit größten Sportereignisse im Land am Zuckerhut zu ermöglichen, werden massiv soziale Rechte verletzt, Einwohner verdrängt und Bürgerrechte unter dem Vorzeichen der Sicherheit eingeschränkt. Enorme Ausgaben entfallen auf das laufende Testturnier, den Konföderationen-Fußball-Pokal.

jw2013-06-19-00_In-Brasilie„Wenn der Preis nicht sinkt, bleibt die Stadt stehen“ – dieser Slogan der Bewegung für den Nulltarif (Movimento Passe Livre – MPL) blieb am Montag an vielen Orten des südamerikanischen Riesenlandes kein leeres Versprechen. Nun waren es schon Hunderttausende, die gleichzeitig in den Metropolen von zwölf Teilstaaten und in der Hauptstadt Brasília zentrale Plätze und Straßen in Besitz nahmen. In Rio de Janeiro zählten die Behörden 65000 Teilnehmer, in São Paulo 100000 Teilnehmer. Unabhängige Beobachter gehen noch von deutlich höheren Zahlen aus. Eine zentrale Rolle bei der Mobilisierung spielt das Internet. Es sind die größten politischen Manifestationen hier seit zwei Jahrzehnten, als für den Rücktritt des unter Korruptionsverdacht geratenen Präsidenten Fernando Collor de Mello demonstriert wurde. Unter den Demonstranten sind besonders viele junge Leute aus ärmeren Vierteln an den Peripherien der Städte. Dort erlebt man die repressive Seite der Staatsgewalt häufig hautnah. Einen bedeutenden Schub bekam der Zulauf zu den Demonstrationen, nachdem in der vergangenen Woche Krawalleinheiten der Polícia Militar, militärisch organisierter Polizeikräfte, in der größten Stadt des Landes São Paulo mit besonderer Brutalität vorgingen und zahlreiche Menschen verletzten, darunter auch acht Pressevertreter. Ein Fotoreporter büßte bei den Übergriffen der Ordnungsmacht ein Auge ein. Unter dem Druck der Öffentlichkeit verbot daraufhin São Paulos liberaler Gouverneur Geraldo Alckmin vorerst den Einsatz von Gummigeschossen und ließ die Polizei auf eine defensivere Taktik umschwenken. „Gibt es keine Polizei, gibt es keine Gewalt“, wurde das Losungswort des Tages.

Die großen Medien, allen voran die der dominierenden Mediengruppe Rede Globo, haben ihre feindliche Haltung zu den als „Vandalen“ gescholtenen Protestierern mittlerweile abgelegt. Sie versuchen nun, rechte Schlagworte gegen Korruption und für „mehr Sicherheit“ in die Bewegung zu tragen und diese gegen die PT-Regierung zu instrumentalisieren. Bislang ohne großen Erfolg. Für Dienstag abend waren bereits neue Proteste angekündigt. In São Paulo wollten MPL und Wohnungslose gemeinsam demonstrieren.

Von Peter Steiniger. Erschienen in: junge Welt vom 19.06.2013, Nr.139, S.7, Link

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