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Häuserkampf auf 22 Etagen

Die Stadt ist aus den Fugen. Mehr als ein halbes Jahrhundert bereits hält ihre ungehemmte Expansion an. Jeder Vierte der heute etwa 20 Millionen Einwohner, die sich hier in der Region Grande São Paulo zusammenballen, lebt in den Favelas, irregulären Siedlungen und Armutsquartieren, meist an der Peripherie des Molochs. Der Verkehr ist ein dauernder Infarkt, Luft und Wasser sind verpestet, es fehlt an Hunderttausenden Wohnungen. Geplant und gebaut wurde lange nur für die Besitzenden und die einkommensstarken Bevölkerungsgruppen. Der Wirtschaftsboom im „Land der Zukunft“, der die Mittelschichten anwachsen läßt und deren Konsum ankurbelt, geht an den Ärmsten der Armen vorbei, die sich im informellen Sektor, als Dienstbotenklasse und mit Gelegenheitsjobs durchschlagen und wie eh und je um ihre nackte Existenz kämpfen müssen.

Kein Job, kein Geld, keine Bleibe. Für viele Neuankömmlinge endet Jahr für Jahr die Suche nach einem besseren Leben in Südamerikas größter Wirtschaftsmetropole auf der Straße. Gestrandet im Straßenmeer von São Paulo, kämpfen sie um vier Wände für sich und ihre Familien, um eine menschenwürdige Behausung. Tausende dieser Obdachlosen haben sich in Bewegungen wie dem Movimento Sem Teto (MSTC) oder der Frente de Luta por Moradia (FLM) zusammengeschlossen. Straff organisiert und militant besetzen sie überlassene Häuser oder Fabriken. Hunderttausende Immobilien sind ungenutzt, verfallen.

Vor zehn Jahren enterten 468 Familien, mit bis zu 2000 Menschen, das Prestes-Maia-Gebäude, das sich in der gleichnamigen Avenida Nr. 911 mit einer Höhe von 22 Stockwerken erhebt. Nicht irgendwo, sondern im zentralen Viertel Luz mit seinen glitzernden Bankfassaden und Geschäftshäusern. Da stand die frühere Textilfirma bereits zwölf Jahre leer, von ihren verschuldeten Herren den Ratten und dem Verfall preisgegeben. Als das höchste besetzte Haus der Welt wurde es zu einem bekannten Symbol des Kampfes um ein menschenwürdiges Obdach und für ein selbstbestimmtes Zusammenleben. Gemeinsam wurde von den Besetzern das Nötigste instandgesetzt. Im neunten Stock des Prestes Maia fanden Kultur, politische Debatten und Workshops ein Zuhause.

In langwierigen und zähen Verhandlungen mit der Stadtregierung und den Eigentümern wurde um das Projekt gerungen, für das Recht von Einkommensarmen, im Zentrum der reichsten Stadt Brasiliens ein Zuhause zu haben, gestritten. Mehr als dreißigmal wurde die Räumung angedroht. Die Besetzer hielten mit Protesten auf Straßen und Plätzen dagegen, mobilisierten die Öffentlichkeit. Ende 2006 startete Amnesty International weltweit eine Urgent Action gegen ihre gewaltsame Verdrängung. Mit bescheidenen Abfindungen wurden von der Präfektur Hunderte Familien in Wohnungen am Stadtrand umgesetzt. Dem erneuten Leerstand folgte am 4. Oktober 2010 eine weitere Besetzung durch 200 obdachlose Familien. Vehement fordern die sozialen Bewegungen Brasiliens eine Enteignung der Besitzer des Leerstands zur Schaffung bezahlbaren Wohnraums.

Von Peter Steiniger. Quelle: Tageszeitung junge Welt, 14.04.2012, Nr. 88, Wochenendbeilage „faulheit & arbeit“ S.4-5, https://www.jungewelt.de/2012/04-14/004.php – Auch veröffentlicht im Womblog – Nachrichten aus Lateinamerika, https://womblog.de/brasilien-huserkampf-auf-22-etagen

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